05. Juni 2024
In den vergangenen Monaten haben Österreichs Beschäftigte eine neue Arbeiterkammer gewählt. Der Historiker Florian Wenninger erklärt, wie diese besondere Klassenorganisation entstand – und wie die Arbeiterdemokratie heute dem politischen Rechtstrend trotzt.
Ein Piktogramm des Ökonomen und Grafikers Otto Neurath aus den 1920ern, das den Aufgabenkreis der neu gegründeten Arbeiterkammer anschaulich machen sollte.
Im Rahmen von Österreichs Superwahljahr 2024 fand von Januar bis April ein etwas anderer Urnengang statt: die Arbeiterkammerwahl. Wie die Tätigkeit der Arbeiterkammer im Allgemeinen erhielt auch diese Wahl weniger mediale Aufmerksamkeit als das Tages- und Wahlgeschehen des politischen Betriebs im engeren Sinne – zum Leidwesen der demokratischen Öffentlichkeit. Denn die AK-Wahl ist in gewissem Sinne ein besonders demokratischer Vorgang: Bürgerliche Schichten, deren Interessen in der großen Politik für gewöhnlich dominieren, auch wenn sie gesellschaftlich keine Mehrheit bilden, bleiben hier außen vor. Zur Wahl aufgerufen ist nur die arbeitende Bevölkerung des Landes.
Politische Erdrutsche gab es bei der vergangenen Wahl nicht. Die sozialdemokratische FSG hielt auf Bundesebene mit 57 Prozent an der absoluten Mehrheit fest, die sie seit 1949 ununterbrochen innehat. In den Bundesländern Tirol und Vorarlberg wurden konservative Listen ebenfalls in ihren Mehrheiten bestätigt, ihr Dachverband ÖAAB-FCG kam aber bundesweit nur auf 16,6 Prozent. Die rechte Liste FA konnte ihre Position zwar auf 12,3 Prozent verbessern, das ist jedoch kein Vergleich zur ihr nahestehenden FPÖ, die bei der Nationalratswahl im Herbst stärkste Kraft zu werden droht.
Die Arbeiterkammer mag damit ein Hort der Stabilität sein, dennoch könnten kommende Verwerfungen im Nationalrat auch an ihren Grundfesten rütteln, wie Florian Wenninger erklärt. Im JACOBIN-Interview spricht der Leiter des Instituts für Historische Sozialforschung darüber, wie diese eigentümliche Interessenvertretung der Arbeiterschaft in Österreich entstand, wozu sie gut ist und was die Zukunft bringt.
Was sind die größten Errungenschaften in der österreichischen Geschichte insgesamt und in der jüngeren Geschichte, die auf die Arbeiterkammer zurückgehen?
Die Aufgabe der Arbeiterkammer besteht ja vor allem darin, im Sinne der Beschäftigten den politischen Entscheidungsträgern ein Informationsfundament bereitzustellen. Das hat eine stark informelle Komponente und daher fällt es oft schwer, den Einfluss genau zu rekonstruieren. Aber die Arbeiterkammer war sicher maßgeblich beteiligt an den Reformen der Kreisky-Ära, sei es die Arbeitszeitverkürzung von 45 auf 40 Stunden pro Woche, seien es umfängliche Verbesserungen im Arbeitsschutz oder etwa auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Die Arbeiterkammer drängt etwa, unterfüttert mit umfangreichen Studien, auf den Ausbau der Kindergärten, auf die Verbesserung der Nachmittagsbetreuung, auf den Ausbau von Ganztagsschulen und so weiter. Auch die große Familienrechtsreform von 1975, die den Mann als Oberhaupt der Familie absetzte und verheiratete Frauen ihren Partnern gleichstellte, wurde von Sozialexperten im Haus stark begleitet.
»Die Arbeiterkammerwahl ist eine Pass-egal-Wahl. Die Arbeiterkammer interessiert sich für Klasse und nicht für Staatsbürgerschaft.«
Hinzu kommt als Kern der AK-Tätigkeit die Begleitung der jährlichen Lohnverhandlungen in sämtlichen Branchen. Den Gewerkschaften werden hier umfassende Informationen zur Verfügung gestellt, vor allem Konjunkturprognosen und dergleichen. Nicht zuletzt beeinflusst die Arbeiterkammer maßgeblich die öffentliche Debatte, wenn es um Fragen wie Vermögensverteilung oder neuerdings auch die Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts geht.
Da sind wir ja momentan in der Situation, dass wir durch jahrzehntelange, sukzessive Verschärfungen unter dem Druck der politischen Rechten in Wien einen Bevölkerungsanteil von 40 Prozent im wahlfähigen Alter haben, die nicht wählen dürfen. Und das sind überwiegend natürlich Arbeiter. Deren gezielter Ausschluss ist nicht nur demokratiepolitisch ein Skandal, er schwächt vor allem auch soziale Anliegen und verstärkt xenophobe Ansätze, etwa im Bildungsbereich, weil die Politik keine Rücksicht auf die Bedürfnisse dieser Gruppe zu nehmen braucht.
Und die dürfen nicht wählen für die politischen Körperschaften im engeren Sinne oder auch nicht für die Arbeiterkammer?
Die Arbeiterkammerwahl ist eine Pass-egal-Wahl. Die Arbeiterkammer interessiert sich für Klasse und nicht für Staatsbürgerschaft. Sobald du in Österreich unselbstständig beschäftigt bist – und weder im Staatsdienst noch in der Land- und Forstwirtschaft arbeitest – bist du für die Arbeiterkammer wahlberechtigt.
Aber auf allen anderen Ebenen werden die Leute draußen gehalten, also vor allem bei den Parlamentswahlen, und, sofern es sich um Drittstaatenangehörige handelt, auch auf Gemeindeebene. Das muss sich ändern, und eine wichtige neue Rolle der Arbeiterkammer ist, hier stärker als früher auf eine Demokratisierung zu drängen.
Um historisch einmal ganz an den Anfang zu gehen: Die Forderung nach einem »Arbeiterparlament« oder einer Arbeiterkammer lässt sich bis ins Jahr 1848 zurückverfolgen. Ein allgemeines Männer-Wahlrecht fürs Parlament in der Westhälfte der damaligen Habsburgermonarchie erstreiten die Arbeiter erst 1907. In welchem Verhältnis standen denn historisch die Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht und nach einer Arbeiter-eigenen demokratischen Körperschaft?
Die Idee einer Arbeiterkammer kommt auf, weil von der bürgerlichen Revolution von 1848 letztlich nur zwei greifbare Errungenschaften überbleiben. Das eine ist die Bauernbefreiung – die Befreiung vom Zehent, die Befreiung vom Robot und die Möglichkeit für die Bauern, den Grund, auf dem sie leben und arbeiten, von den Grundherren zu kaufen. Das andere ist die Einrichtung der Handelskammer als eine legitime Interessensvertretung für das städtische Bürgertum.
Die Handelskammer kann kaum mehr tun, als informell Einfluss zu nehmen, aber immerhin ist sie irgendeine politische Repräsentanz. Auch in der sich formierenden Arbeiterbewegung kommt daher die Idee auf, wenn sich schon keine demokratische Teilhabe durchsetzen lasse, könne man doch zumindest versuchen, eine Standesvertretung zu erreichen.
Das ist in der beginnenden Gewerkschaftsbewegung aber keineswegs unumstritten. Denn damit ist die Sorge verbunden: Wenn der Staat so eine Standesvertretung zulässt, akzeptieren wir damit nicht indirekt ein korporatistisches System? Und andererseits: Was passiert mit den Leuten, die in dieser Standesvertretung tätig sind? Lässt sich sicherstellen, dass die der Arbeiterbewegung verbunden bleiben? Oder produzieren wir da nicht womöglich unabsichtlich eine faktisch beamtete Funktionärsclique, die in erster Linie an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert ist?
»Als große Aufgabe ist der Arbeiterkammer in ihrer Gründungsphase zugedacht, dabei zu helfen, das sozialdemokratische Kernanliegen der Sozialisierung umzusetzen.«
Unterm Strich hatten es die Gewerkschaften daher mit der Einrichtung einer Arbeiterkammer bis in die 1910er Jahre nicht besonders eilig. Während des Ersten Weltkriegs änderte sich das allerdings. Im Zuge der Kriegsanstrengungen wurden die Gewerkschaften in die staatliche Verwaltung integriert und bekamen so auch ein konkreteres Gefühl von der Bedeutung loyaler Wissensapparate. Zugleich waren sie durch ihre Verankerung in den Betrieben die ersten, denen klar wurde, dass dieser Krieg nicht einfach zu Ende gehen, sondern dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine politische Umwälzung nach sich ziehen würde.
Man begann sich also Gedanken zu machen, wie man in einem künftigen Staatswesen Einfluss nehmen konnte. Dazu brauchte man Expertise. Und es war recht klar, dass diese Expertise von den vorhandenen Wissensapparaten nicht abgerufen werden konnte – weder in den Ministerien, die durchsetzt waren von bürgerlich-konservativen Beamten, noch in den Universitäten, die noch weiter rechts standen als die Ministerialbürokratie. Wenn man also Forschungs- und Ausbildungsstätten haben wollte, die verlässlich zu einer sozialen Emanzipation beitrugen, dann musste man sie selbst gründen. Das war der Ausgangspunkt der Arbeiterkammer.
Heute würde man Thinktank dazu sagen.
Ja, genau. Diese Thinktank-Funktion ist eine ganz zentrale. Die zweite wichtige Aufgabe ist, dass die Arbeiterkammer Betriebsräte ausbilden soll. Betriebsräte spielen ja eine wichtige Rolle im Unternehmen, haben Kontroll- und Interventionsrechte und sitzen im Aufsichtsrat. Oft hat man es da mit ziemlich komplexen Materien zu tun, als Nicht-Jurist oder Nicht-Ökonomin ist man da mit seinem Latein eventuell schnell am Ende. Also muss jemand zuarbeiten, die notwendigen Informationen aufbereiten – und das ist die Arbeiterkammer.
Die dritte Aufgabe der Arbeiterkammer ist die Einflussnahme auf den politischen Prozess im Wege der Gesetzesbegutachtung: Bevor ein Gesetzesvorschlag im Parlament zur Abstimmung gelangt, wird er Interessensgruppen, die davon betroffen sind, zur Begutachtung vorgelegt. Die können dann Stellungnahmen abgeben. In der Hochphase der Sozialpartnerschaft, von den 1960ern bis in die 1980er, war das ein wichtiges Instrument. In den letzten Jahren hat es realpolitisch allerdings an Bedeutung verloren.
Oftmals war es ja so, dass Errungenschaften der Arbeiterbewegung gegen großen Widerstand durchgesetzt werden mussten und deshalb nur in abgeschwächter Form, als Kompromisse realisiert wurden. Worauf hat man bei der Arbeiterkammer verzichten müssen?
Als große Aufgabe ist der Arbeiterkammer in ihrer Gründungsphase zugedacht, dabei zu helfen, das sozialdemokratische Kernanliegen der Sozialisierung umzusetzen. Die AK sollte dazu Experten in die entsprechenden Kommissionen entsenden. Das Vorhaben scheitert allerdings letztlich am hinhaltenden Widerstand der Konservativen.
Verstaatlicht wird die Industrie ironischerweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals ist das die einzig mögliche Alternative, um zu verhindern, dass die Sowjets die Industrie, die sich überwiegend in deutschem Eigentum befanden, als Reparation kassieren. Vor die Alternative gestellt, dass die Anlagen hinter den Ural verbracht werden, sind jetzt selbst Bürgerliche vorübergehend für Verstaatlichung.
Wo hat man noch Kompromisse gemacht? Ganz sicher im Bereich der Landwirtschaft und der dort arbeitenden Menschen. Letztlich ruht die Erste Republik, deren Produkt auch die Arbeiterkammer ist, auf einer gesellschaftlichen Allianz zwischen zwei antagonistischen Blöcken: der Sozialdemokratie und dem politischen Katholizismus. Und dieses Bündnis lebt davon, dass man die Sphären der jeweils anderen weitgehend in Ruhe lässt.
»Im Austrofaschismus werden die Arbeiterkammern nicht nur gleichgeschaltet, sondern bekommen auch eine neue Funktion zugesprochen: Entproletarisierung des Proletariats durch Kulturarbeit.«
Die Sozialdemokratie holt Zugeständnisse für die Industriearbeiterschaft raus, verzichtet aber darauf, die Landarbeiterschaft gewerkschaftlich zu erfassen, um die Bauern nicht aufzubringen. Sie akzeptiert auch, dass die Knechte und Mägde aus dem neuen sozialstaatlichen Regelsystem weitgehend draußen gehalten werden. Das gilt auch für die neu geschaffene gesetzliche Interessenvertretung: die Arbeiterkammer.
Obwohl die Knechte und Mägde nicht nur die größte, sondern zweifellos auch ärmste und ausgebeutetste Gruppen von Arbeitenden sind, werden sie nicht von der Arbeiterkammer organisiert, sondern von der Landwirtschaftskammer, wo die Bauern, also die Arbeitgeber, die Strukturen in der Hand haben. Bis die Beschäftigten in der Landwirtschaft flächendeckend eine eigene Interessensvertretung bekommen, dauert es bis in die 1970er.
Die Arbeiterkammern werden im Austrofaschismus politisch gleichgeschaltet und dann im Nationalsozialismus zerschlagen. Sind sie davon nachhaltig gezeichnet?
Im Austrofaschismus werden die Arbeiterkammern nicht nur gleichgeschaltet, sondern bekommen auch eine neue Funktion zugesprochen. Sie sind keine Klassenorganisationen mehr, denn der Klassenkampf ist ja angeblich überwunden. Es geht daher nun nicht mehr um Interessensvertretung im materiellen Sinne, sondern vor allem um geistige Betreuung: Entproletarisierung des Proletariats durch Kulturarbeit.
1938, mit dem »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland, folgt die Zerschlagung, ‘45 die Re-Etablierung der Arbeiterkammer. Und diese ist, weil die Zweite Republik bis ‘66 großkoalitionär aufgesetzt ist, auch wieder ein Kompromiss zwischen den beiden Gründungslagern, also den Christlichsozialen, die sich in der ÖVP reorganisiert haben, und den Sozialdemokraten. Das merkt man auch daran, dass die Kulturarbeit, die im Austrofaschismus dazugekommen ist, in der Zweiten Republik ein wichtiges zusätzliches Standbein bleibt, neben der Interessenpolitik, die das rote Ansinnen war.
Und wie bewertet man, dass da etwas aus dem Austrofaschismus übriggeblieben ist?
Die gesamte gewerkschaftliche Struktur Österreichs wäre nicht erklärbar ohne die austrofaschistische Erfahrung. Denn Gleichschaltung heißt ja im Austrofaschismus nicht, dass alle Roten rausgeschmissen und durch Schwarze ersetzt werden – dafür ist die schwarze Personaldecke zu dünn.
Man begnügt sich damit, die Führungsetage durchzusäubern: Die ersten drei Reihen, da macht man klar Schiff, aber drunter duldet man Sozialdemokraten, wenn sie sich ruhig verhalten. In der Folge entstehen persönliche Bekanntschaften. Und auf Grundlage dieser Nähe wird es möglich, nach ‘45 den Gewerkschaftsbund zu schaffen und mit dem System der Richtungsgewerkschaften, die bis ‘34 existierten, zu brechen.
Würde man sagen, die neue Arbeiterkammer ist dadurch genauso gut, stärker oder schwächer als die der Ersten Republik?
Das ist eine Frage des Standpunktes. Ich würde sagen, deutlich ist, dass die Arbeiterkammer der Zweiten Republik breitere Akzeptanz hat. Das hat auch mit dem Proporz-System zu tun, das nach ‘45 lange Österreichs politisches System prägt. Es wurde als »Bürgerkrieg am grünen Tisch« oder auch als »Klassenkampf am grünen Tisch« beschrieben.
Das heißt, die beiden Bürgerkriegsparteien des Jahres 1934 bauen zusammen die Republik neu auf und müssen irgendeine Form des Umgangs miteinander finden. Also teilen sie sich das Land auf, sie teilen sich die Verwaltung auf, sie teilen sich die verstaatlichte Industrie auf, sie teilen sich Machtsphären auf, auch auf kommunaler Ebene, und dann heißt es: Deine »Reichshälfte« geht nur dich was an, und in meiner mache ich, und lass mir von dir nicht reinreden.
»Der Sohn von Karl Kautsky ist nach dem Zweiten Weltkrieg der Chef der Wirtschaftswissenschaft in der Arbeiterkammer: Benedikt Kautsky, der Auschwitz überlebt hat.«
Die Arbeiterkammer ist zwar bis in die 1990er klar in der roten Reichshälfte, wird daher aber auch von der schwarzen Seite akzeptiert und respektiert. Das ist ein wichtiger Unterschied zur Ersten Republik. Also die gesellschaftliche Akzeptanz der Arbeiterkammer steigt, und auch ihr Einfluss, da die Sozialdemokratie Regierungspartei ist und sich das System der Sozialpartnerschaft etabliert. Dadurch verfügt die Arbeiterkammer über unvergleichlich größere Wirkungsmacht.
In den Arbeiterkammern sind viele verschiedene Listen vertreten, wobei die größeren jeweils politischen Parteien nahestehen. Welchen Einfluss hat es auf ihre Positionen, dass sie ausschließlich Arbeiterinnen und Arbeiter und nicht auch bürgerliche Schichten ansprechen müssen? Steht die FSG zum Beispiel traditionell links der SPÖ, also fordert sie mehr in der Arbeits- und Sozialpolitik?
Die Arbeiterkammer war in der Ersten Republik stark geprägt von linken Akademikern aus jüdischem Hause. Diese Tradition setzt sich nach ‘45 fort – sehr eingeschränkt, aber doch. Zum Beispiel der Sohn von Karl Kautsky ist dann der Chef der Wirtschaftswissenschaft in der Arbeiterkammer: Benedikt Kautsky, der Auschwitz überlebt hat, zurückkommt, und mindestens bis in die 1970er Jahre die Wirtschaftspolitik der Arbeiterkammer prägt. Und Leute wie Eduard März, ebenfalls ein linker Sozialdemokrat aus jüdischem Elternhaus, der die Nazis im US-Exil überlebte, oder Stefan Wirlandner, ein linker Sozialdemokrat, der im Zweiten Weltkrieg für den britischen Kriegsgeheimdienst SOE arbeitete, kommen aus dem Exil zurück. Um sie bildet sich in der Arbeiterkammer ein linker Cluster.
Auch dieser linke Cluster ist allerdings strikt antikommunistisch, antistalinistisch, und zumindest mehrheitlich der Meinung, dass man im bestehenden Ost-West-Konflikt, wenn man dem Westen zugehören will, sowieso keine andere Möglichkeit hat, als sich irgendwie mit dem Kapitalismus zu arrangieren. Und sie glauben, auch in der Tradition von Keynes, dass man das Pferd schon reiten wird. Das kann man verglichen mit dem Austromarxismus der Zwischenkriegszeit als einen Rechtsschwenk sehen, wie sich auch die gesamte Arbeiterbewegung des Westens nach rechts bewegt hat.
Die Arbeiterkammern und die Gewerkschaften beginnen sich wieder am linken Flügel wiederzufinden, als in den ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahren der Neoliberalismus einsickert, als es auch in Österreich unter sozialdemokratischen Kanzlern zu umfassenden Privatisierungen kommt, zu Einschnitten in den Sozialstaat – nicht allerdings, wie in Deutschland, zu einer Agenda-Politik, was auch damit zu tun hat, dass die Gewerkschaften so mächtig sind. Das politische Kapital der FSG ist: Wenn die Sozialdemokratie Wahlkampf machen will, dann braucht sie eine aktivierbare Massenbasis, und die hat eigentlich nur noch die FSG.
Von daher sind die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer sozialpolitisch, verteilungspolitisch und auch demokratiepolitisch – Stichwort Staatsbürgerschaftsdebatten – mittlerweile mehrheitlich dem linken Flügel der Sozialdemokratie zuzurechnen. Der rechte Flügel der Partei plädiert für eine rigide Migrationspolitik, für rigide Staatsbürgerschaftspolitik und steht für letztlich konservative gesellschaftspolitische Vorstellungen. Das ist weder in den Gewerkschaften noch in der Arbeiterkammer mehrheitsfähig.
In anderen Ländern ohne Arbeiterkammern ist die Arbeitsteilung immer recht klar: Gewerkschaften trotzen auf wirtschaftlicher Ebene den Unternehmern Zugeständnisse ab, während sozialistische Parteien im Staat arbeiterfreundliche Gesetze machen. Wie sieht die Arbeitsteilung in diesem dreigliedrigen System aus?
Alle drei Strukturen sind eng miteinander verwoben. Es ist zum Beispiel völlig selbstverständlich, dass der oder die Sozialministerin einer sozialdemokratisch geführten Regierung aus der Gewerkschaft kommt. Es ist völlig selbstverständlich, dass Gewerkschafter auf sicheren Listenplätzen der SPÖ kandidieren, dass es keine nationale Wahlliste gibt, bei der die Gewerkschaft nicht ein gewichtiges Wörtchen mitreden kann. Und dann ist es so, dass mit jedem Einzug in Ministerien, im Falle einer Regierungsbeteiligung, maßgebliche Expertise aus der Arbeiterkammer kommt. Viele Kabinettsmitarbeiter kommen nach wie vor aus diesen Wissensapparaten – nicht nur, aber hauptsächlich in sozialdemokratisch geführten Ressorts.
»Falls es nach den Nationalratswahlen im Herbst eine rechte, bürgerliche Regierung gibt, dann wird die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Arbeiterkammer angreifen.«
Auf der anderen Seite ist klar, dass es die Arbeiterkammer nur so lange gibt, als es eine schlagkräftige Gewerkschaft gibt. In der direkten Klassenauseinandersetzung, wenn es hart auf hart kommt, gibt es eine Kampforganisation, und das ist nicht die Arbeiterkammer und auch nicht die Sozialdemokratie, sondern die Gewerkschaft. Wie stark diese Kampforganisation ist, werden wir, fürchte ich, sehen, falls es nach den Nationalratswahlen im Herbst eine rechte, bürgerliche Mehrheit gibt.
Denn die wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Arbeiterkammer angreifen – über die sogenannte Umlage, also ihre Finanzierung durch die Pflichtmitgliedschaft aller unselbstständig Erwerbstätigen. Der Gesetzgeber legt nämlich fest, wie hoch dieser Anteil am Bruttogehalt ist, die jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin da hineinzahlt. Aktuell sind das 0,5 Prozent. Aber wird der Satz beispielsweise auf 0,1 herabgesetzt, dann ist die Kammer zu guten Teilen handlungsunfähig. Und dann wird es darauf ankommen, ob und wie die Gewerkschaften gegen so einen schweren Einschnitt Widerstand leisten.
Einen eigenen Machthebel hat die Arbeiterkammer nicht?
Einen direkten Hebel, mit dem die Arbeiterkammer Druck machen kann, gibt es in der Tat nicht. Sie beeinflusst aber natürlich die öffentliche Debatte. Die Arbeiterkammer ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht irgendeine Institution unter ferner liefen, sondern belegt in Vertrauensindizes regelmäßig den zweiten oder den dritten Platz. Und sie bildet mit ihren Ressourcen das Rückgrat einer funktionierenden Interessensarbeit, wenn jemand die Beschäftigteninteressen angreifen will, also: der Opposition. Wer sich mit der Arbeiterkammer anlegt, hat zumindest eine zähe Gegnerin.
Und welche Bedeutung haben die Arbeiterkammerwahlen?
Die Arbeiterkammer ist kein Gremium, das von der Regierung oder vom Parlament beschickt wird, sondern ein selbstverwaltetes Gremium, das ein eigenes Parlament hat. Dieses Parlament bildet die Legislative, während die bürokratische Struktur die Exekutive darstellt. Diese Selbstverwaltung fällt Richtungsentscheidungen und beauftragt bestimmte politische Vorhaben. Da macht es natürlich einen Unterschied, ob in den Gremien Bürgerlich-Konservative die Mehrheit haben oder Sozialdemokratinnen und alles, was links davon ist.
Wir hatten ursprünglich in allen Länderkammern breite sozialdemokratische Mehrheiten. Doch in den 80er Jahren geriet die Arbeiterkammer durchaus auch selbstverschuldet in eine ganz dramatische Schieflage. Das hatte viel zu tun mit einer gewissen Selbstbedienungsmentalität innerhalb der Bürokratie. Die war mithin auch mitverantwortlich für den Aufstieg von Jörg Haider und seiner FPÖ, denn der hat in erster Linie die Bezüge von Arbeiterkammer-Funktionären skandalisiert, um SPÖ und Gewerkschaften insgesamt als korrupt hinzustellen. Damals fängt in manchen Länderkammern auch die sozialdemokratische Mehrheit zu erodieren an, in Tirol und in Vorarlberg wird sie in den Folgejahren gebrochen.
Die Arbeiterkammer reagiert auf den Vertrauensverlust, indem sie neben ihrer Grundlagenarbeit vor allem ihr Serviceangebot massiv ausbaut: Rechtsberatung, Wohnberatung, Konsumentenschutz und so weiter. Dieses Angebot ist ganz stark dafür verantwortlich, dass die Arbeiterkammer wieder derart hohe Zustimmungsraten hat.
Wird sich am Kurs der Arbeiterkammer nach dieser Wahl viel ändern? Ich glaube, nicht. Aber the proof is in the pudding – knusprig wirds, wenn im Herbst eine Rechtsregierung kommt. Denn dann werden auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung und innerhalb der Kammern die politischen Risse sichtbarer zwischen Konservativen und Linken.
Florian Wenninger ist Historiker und Leiter des Instituts für Historische Sozialforschung, einer gemeinsamen Stiftung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammer.