26. Mai 2020
Der Feind in dieser Pandemie ist nicht China, sondern die Ungleichheit und die Bereitschaft, Profite über Menschenleben zu stellen. Ein Blick auf die Strategie Chinas.
Corona-Mobilisierung: Ein staatliches Unternehmen in der Provinz Hebei, das seit dem 13. Februar 2020 täglich 44.000 Schutzanzüge herstellte.
Nach allem, was wir bis jetzt wissen, war China bei der Eindämmung des Coronavirus im eigenen Land jenseits der Provinz Hubei vergleichsweise erfolgreich. Viele Beobachterinnen und Beobachter führen dies auf den Autoritarismus zurück. Jenseits von demokratischen Prinzipien oder Menschenrechten könne China, so lautet das Argument, durch Cyber-Überwachung eine Kontaktsperre mittelalterlichen Stils durchsetzen. Neben seinem undemokratischen politischen System profitiere China von asiatischen Werten und einer kollektivistischen Kultur.
Kurz: es geht um den chinesischen Exzeptionalismus. Der chinesische Ansatz sei in westlichen demokratischen Gesellschaften aufgrund unserer Sorge um die individuellen Freiheiten nicht möglich. Chinas Umgang mit der Krise ist in dieser Erzählung die Krise der »Anderen«, so wie das Virus selbst in den ersten Monaten der Pandemie als chinesisches Problem »orientalisiert« wurde. Chinas Erfahrungen werden somit für die in den USA oder Europa lebenden Menschen irrelevant.
Ein solcher Fokus auf »Autoritarismus versus Demokratie« oder »Osten versus Westen« verfehlt jedoch den Kern von Chinas Corona-Strategie. Er führt zu einer anti-chinesischen Haltung, der in Zeiten des sogenannten »neuen Kalten Krieges« zunehmend gefährlich wird. Um Chinas Umgang mit der Corona-Krise zu verstehen, müssen wir seine Reaktion vielmehr in den größeren polit-ökonomischen Kontext stellen.
Diese Krise hat sowohl die tiefe Integration Chinas in den globalen Kapitalismus als auch seine Flucht aus der neoliberalen Schock-Strategie deutlich gemacht. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz war das Herzstück der chinesischen Reaktion auf den Virus eine groß angelegte öffentliche Mobilisierung von medizinischen Hilfsgütern und Nahrungsmitteln, ähnlich dem, was einige in den USA – unter Berufung auf die amerikanischen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs – für den jetzigen Kampf gegen Corona gefordert haben.
Angesichts der weitreichenden Integration Chinas in den globalen Kapitalismus ist es erstaunlich, dass die chinesische Führung die zu dem Zeitpunkt größte Quarantäne der Geschichte verhängte, die rund 760 Millionen Menschen betraf. Ein solches Abschalten der Produktion opferte unweigerlich das Wirtschaftswachstum, das der chinesische Staat seit Jahrzehnten als oberste Priorität betonte. China hat seine massive Exportindustrie zum Erliegen gebracht, als alle anderen Länder noch dem »business as usual« folgten. Dies geschah während des Handelskrieges mit den USA, bei dem die Bemühungen großer multinationaler Unternehmen, ihre Lieferketten weg von China zu verlagern, bereits in vollem Gange waren. Die Schließungen riskierten, diese Bemühungen noch zu beschleunigen.
In China wie auch anderswo herrschte in der Anfangsphase des Corona-Ausbruchs ein chaotischer Marktwettbewerb, der in Profitgier und vorübergehende Engpässe mündete. Die Inflation der Lebensmittelpreise war in China aufgrund der Schweinegrippe bereits vor der Corona-Krise hoch. Anfänglich löste die Abriegelung Panikkäufe und Wucher aus, wie sie auch in europäischen Ländern und den USA gemeldet wurden. Die plötzliche und dringende Nachfrage nach Masken und Schutzausrüstung führte zu Engpässen, und einige private Händler versuchten, davon zu profitieren.
Die Zivilgesellschaft bemühte sich, Spenden aus dem ganzen Land und dem Ausland zu organisieren. 95 Prozent der Bevölkerung Chinas sind durch eine staatlich subventionierte Krankenversicherung abgesichert, doch die Zuzahlungen können hoch sein. Die anfangs fehlende Deckung der medizinischen Kosten traf insbesondere die Schwächsten unter den ersten Infizierten, bevor die Regierung alle Behandlungen mit dem Coronavirus kostenlos machte.
»China stellte vorübergehend die Menschen über Gewinne und Wachstum und wechselte in den Modus der Katastrophenhilfe um jeden Preis.«
Der Wettbewerb des Marktes scheiterte auch bei der Lieferung der dringend benötigten medizinischen Hilfsgüter und der Nahrungsmittelverteilung in der Anfangsphase der Corona-Krise – in China ebenso wie in den USA, Großbritannien und anderen Ländern. Das Handeln der chinesischen Behörden in den ersten Wochen des Corona-Ausbruchs ist höchst umstritten. Der 23. Januar und die Abriegelung von Wuhan markiert eine entscheidende Wende. Die Zentralregierung entschied sich für einen Kampf gegen den Virus mit allen Mitteln und ging zu einer umfassenden Mobilisierung über. China stellte vorübergehend die Menschen über Gewinne und Wachstum und wechselte in den Modus der Katastrophenhilfe um jeden Preis.
Ressourcen aus dem ganzen Land wurden nach Wuhan, Chinas Epizentrum des Ausbruchs, gebracht. Alle Corona-Behandlungen wurden kostenlos durchgeführt. Über 40.000 medizinische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die meisten davon aus öffentlichen Krankenhäusern im ganzen Land, kamen zur Behandlung von Patienten – ganz zu schweigen von der viel berichteten Erbauung und Einrichtung von Notfallkrankenhäusern innerhalb weniger Tage.
Die Menschen in Wuhan erlebten einen Anflug von Solidarität, die einer grundlegend anderen Logik folgt als der des individuellen Gewinnstrebens und der Privatisierung. Die Gesamtzahl der Krankenhausbetten in China hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt und der Durchschnitt der Betten pro 1.000 Einwohner in China (4,3) liegt nun nahe am OECD-Niveau (4,71). In der gleichen Zeit expandierten private Krankenhäuser rasant und haben sich seit 2009 mehr als verdreifacht. 26 Prozent aller chinesischen Krankenhausbetten sind heute in privater Hand. Aber es waren die öffentlichen Krankenhäuser, die während der Gesundheitskrise mehr als 95 Prozent der Corona-Patienten des Landes behandelten.
Krankenpflegerinnen aus verschiedenen Regionen Chinas kürzen sich vor dem Einsatz in Wuhan gegenseitig die Haare.
Während der Krankenversicherungsschutz in den letzten Jahren in China erheblich zugenommen hat, bestehen bei den Versicherungsleistungen in normalen Zeiten große Unterschiede zwischen Stadt und Land, arm und reich. Die Ausweitung des öffentlichen Gesundheitssystems in den letzten zehn Jahren war entscheidend für Chinas Kampf gegen den Virus. In der Corona-Krise wurde vorübergehend ein gleichberechtigter Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährt. Diese temporäre Eindämmung der Ungleichheit sowie die Stärke des öffentlichen Systems haben Chinas Bewältigung des Virus ermöglicht.
Ein anfänglicher Mangel an medizinischer Versorgung mit Schutzkleidung, Masken, Testsätzen und Infrarot-Körperthermometern wurde durch eine staatlich organisierte Produktionsoffensive überkommen. Chinas nationales medizinisches Verteilungssystem erwies sich als entscheidend: Staatliche und staatlich kontrollierte Unternehmen übernahmen die Führung bei der Herstellung und dem Vertrieb von medizinischem Material. Eine Plattform, die Käufer und Verkäufer landesweit koordinieren sollte, wurde eingerichtet.
Die Kapazität zur Herstellung von Masken vervielfachte sich von 20 Millionen pro Tag auf 110 Millionen innerhalb des Monats Februar um das 5,5-fache. Das erste Testkit wurde am 24. Januar produziert – bis zum 11. März brachte China täglich 2,6 Millionen Testkits auf den Markt. Staatliche Handelsagenturen sorgten dafür, dass private Produktionskapazitäten für die Mobilisierung gebündelt wurden. Die Regierung verpflichtete sich, als Käufer der letzten Instanz für diese wichtigen medizinischen Güter zu fungieren und den privaten Herstellern somit einen Markt zu garantieren. Alle aufgekauften Reserven sollen Chinas nationale Lagerbestände aufbauen.
China mobilisierte sein öffentliches System der Nahrungsmittelreserven, -produktion und -verteilung, um die nationale Quarantäne durchsetzen zu können. Online-Händler waren vielerorts die Schnittstelle zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Aber ihre Lieferungen wurden durch ein staatliches Programm unterstützt, das den Städten die Bereitstellung, Erschwinglichkeit und Sicherheit von Lebensmitteln, insbesondere von frischen Produkten und Fleisch, auferlegt.
Ein Netzwerk von Nachbarschaftskomitees, das sich über alle Städte erstreckte, organisierte die Lieferung von Nahrungsmitteln und stellte sicher, dass alle Menschen versorgt sind. Chinas öffentliches Reservesystem beschafft Getreide und andere Grundnahrungsmittel, wenn das Angebot hoch und die Preise niedrig sind, und gibt Vorräte frei, wenn Knappheiten, wie während der Corona-Krise, auftreten.
»In den meisten Ländern trifft Corona benachteiligte Bevölkerungsgruppen am härtesten. Das ist in China nicht anders.«
Diese öffentlichen Versorgungsprogramme wurden mit großen Datenmengen koordiniert, die den meisten von uns großes Unbehagen bereiten. Der Einsatz von Apps war einer der Bausteine Chinas nationaler Quarantäne und ermöglichte die Rückverfolgung von Kontakten zu Corona-Infizierten. Die Frage nach der Privatsphäre und die Bedrohung durch Überwachung drängt sich auf und sollte uns allen zu denken geben. Allerdings zeichnet sich ab, dass der Versuch, »big data« und Apps zur Nachverfolgung des Virus zu verwenden, keineswegs eine chinesische Eigenheit ist. Andere Länder ziehen nach und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen vor einer unüberschaubaren Flut neuer Apps.
In den meisten Ländern trifft Corona benachteiligte Bevölkerungsgruppen am härtesten. Das ist in China nicht anders. In den ersten Wochen vor der großen Quarantäne gab es Berichte über eine infizierte, schwangere Arbeitsmigrantin, der das Geld für die Corona-Behandlung ausging. Sie verstarb, bevor die Zentralregierung die umfassenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus ergriff.
Ohne die umfassende Mobilisierung und universelle Gesundheitsversorgung während der Pandemie hätte es Hunderttausende solcher Fälle in China geben können. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass Chinas rabiate Maßnahmen 1,4 Millionen Infektionen und 56.000 Todesfälle vermieden haben. Ein Wissenschaftsjournalist der New York Times geht sogar so weit, zu behaupten, dass Chinas strikte Abriegelung 10 Millionen Menschenleben gerettet hat.
Die umfassende Mobilisierung während der Pandemie bedeutet jedoch keineswegs, dass China seine Integration in den globalen Kapitalismus überwunden hat. In der Tat hat Chinas untergeordnete Position in globalen Wertschöpfungsketten – die eine starke Abhängigkeit von ausländischer Technologie bedeutet – im Kontext verschärfter internationaler Spannungen brutal die Grenzen eines solchen nationalen Bemühens aufgezeigt.
Die Arbeitsteilung zwischen den USA und China bleibt weitgehend das, was auf der Rückseite eines iPhones zu lesen ist: in Kalifornien entwickelt, in China zusammengebaut. Dies führte zu technischen Engpässen, als China versuchte, die Produktion medizinischer Geräte im massenhaften Maßstab auszuweiten. Mangels importierter Kernkomponenten blieb die Produktion von Beatmungsgeräten hinter der Nachfrage zurück. Sogar bei chirurgischen Masken ist China auf deutsche und japanische Importe von wichtigen Maschinenteilen angewiesen, um Vliesstoff, ein entscheidendes Material für Filter, herzustellen. Diese lebensrettende Produktion schnell auf Chinas volle Kapazität hochzufahren hätte weitreichende internationale Koordination erfordert.
»Chinas Markt-Reformer haben sich bereits organisiert, um eine weitere Vertiefung des Marktes zu fordern und Chinas Integration in den globalen neoliberalen Kapitalismus zu schützen.«
In China wie auch anderswo ist zu befürchten, dass die Aufteilung der Kosten der Pandemie sich nach den bestehenden Ungleichheiten richtet. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der People's Bank of China zeigt, dass die obersten 10 Prozent der städtischen Haushalte die Hälfte des gesamten städtischen Haushaltsvermögens besitzen. Zweifellos sind Chinas mehr als 200 Millionen Wanderarbeiterinnen und -arbeiter diejenigen, die am meisten unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise leiden, da das Land in eine Beschäftigungskrise von ungewissem Ausmaß eintritt. Viele von ihnen arbeiteten früher im Exportsektor.
Angesichts der zerrütteten Weltwirtschaft steht China vor der Herausforderung, die Neuausrichtung seines Wirtschaftsmodells zu beschleunigen. Die Corona-Krise traf auch Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern mit Arbeitsplätzen in der heimischen Gig-Economy, wie z.B. Online-Fahrdiensten und Restaurant-Lieferdiensten. Den Arbeitsmarkt nach dem Modell von Uber zu strukturieren war ein einfacher Weg, um Arbeitsplätze zu schaffen, aber die Prekarität dieser Gig-Beschäftigten hat sich durch die Pandemie noch weiter verschlechtert und stellt nun eine ernsthafte Herausforderung dar.
Der tiefe Schock der Pandemie und die Erfahrung der Massenmobilisierung als Alternative zum individuellen Gewinnstreben, hat die Frage nach der Zukunft von Chinas Reformen wieder aufleben lassen. Einige prominente Stimmen der neuen Linken Chinas sind so weit gegangen, zu argumentieren, der »Volkskrieg« gegen COVID-19 habe ein Modell für eine andere Zukunft geliefert. Das erscheint jedoch voreilig. Vielmehr eröffnet die Notwendigkeit weitreichender wirtschaftlicher Anpassungen, die diese Weltwirtschaftskrise erforderlich macht, ein weites umkämpftes Terrain. Chinas Markt-Reformer haben sich bereits organisiert, um eine weitere Vertiefung des Marktes zu fordern und Chinas Integration in den globalen neoliberalen Kapitalismus zu schützen.
Die Pandemie erfordert global – China eingeschlossen – einen weitreichenden sozialen und wirtschaftlichen Wandel. In welche Richtung dieser gehen wird, ist schwer umkämpft. Das Ergebnis wird auch davon abhängen, wie der Umgang mit dem Ausbruch von COVID-19 interpretiert wird und welche Lehren wir ziehen.
Anstatt China zu einer exotischen Ausnahmeerscheinung zu machen, müssen progressive Kräfte danach streben, die Logik des Nationalismus zu durchbrechen. Der Feind in dieser Pandemie ist nicht China, sondern die Ungleichheit und die Bereitschaft, Profite über Menschenleben zu stellen.
Isabella Weber ist die Autorin von ›How China Escaped Shock Therapy‹ (Wie China der Schocktherapie entkam) und Assistant Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Amherst, Massachusetts.
Hao Qi ist Associate Professor an der Wirtschaftsfakultät der Renmin-Universität, China.
Zhongjin Li ist Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Missouri–Kansas City.
Isabella Weber ist Assistant Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Amherst, Massachusetts.
Hao Qi ist Associate Professor an der Wirtschaftsfakultät der Renmin-Universität von China.
Zhongjin Li ist Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Missouri Kansas City.