06. Dezember 2024
Der Rechtsstreit zwischen Brasiliens Oberstem Gerichtshof und Elon Musks Plattform X ist nur die Spitze des Eisbergs im Kampf zwischen Big Tech und souveränen Staaten um die Kontrolle über unsere digitale Zukunft.
Der Konflikt zwischen Elon Musks Firma und dem brasilianischen Gericht offenbart ein Dilemma, das weit über das Thema Social Media hinausgeht.
Im vergangenen Sommer kriselte es zwischen X (ehemals Twitter) und der brasilianischen Justiz. Zum Showdown kam es dann am 30. August: Der Oberste Gerichtshof entschied, dass der Betrieb des sozialen Netzwerks in dem südamerikanischen Land vorerst ausgesetzt wird. Dieses vollständige Abstellen eines bedeutenden Kommunikationsdienstes – in demokratischen Staaten ein präzedenzloser Vorgang – war der Weigerung des Unternehmens geschuldet, einer gerichtlichen Anordnung nachzukommen. X war aufgefordert worden, alle Benutzerkonten zu sperren, die mit den Ausschreitungen im Zuge der Präsidentschaftswahlen am 8. Januar 2023 in Zusammenhang standen, tat dies aber nicht ausreichend.
»Menschen einfach daran zu hindern, ihre bevorzugten sozialen Medien zu nutzen, ist offensichtlich keine Lösung.«
Nach der Sperrung wechselte X am 18. September zunächst den Netzwerkanbieter und war so kurzzeitig wieder in Brasilien verfügbar. Der Oberste Gerichtshof reagierte umgehend mit einer Geldstrafe von fast einer Million US-Dollar pro Tag. Dies veranlasste das Social-Media-Unternehmen, schon am Folgetag einen Rückzieher zu machen und zu seinem vorherigen Netzwerkanbieter zurückzukehren. Nach längerem politischem Zerren und viel Drama begann X ab dem 21. September, den ursprünglichen Forderungen des Gerichts zumindest teilweise nachzukommen. Im Gegenzug können die Brasilianerinnen und Brasilianer inzwischen wieder tweeten.
Der Konflikt zwischen Elon Musks Firma und dem brasilianischen Gericht offenbart ein Dilemma, das weit über das Thema Social Media hinausgeht: Die Frage ist, wie und wie weit ein souveräner Staat den digitalen Raum, der überwiegend von US-Konzernen beherrscht wird, regulieren kann. Menschen einfach daran zu hindern, ihre bevorzugten sozialen Medien zu nutzen, ist offensichtlich keine Lösung. Ebenso zeigen aber die tiefgreifenden Veränderungen der digitalen Landschaft in den letzten Jahrzehnten, dass es auch nicht ausreicht, »das Ganze einfach vom Markt regeln zu lassen«.
Im Interview mit dem Magazin Wired beschrieb der erzkonservative Tech-Aktivist George Gilder im Jahr 1993 das Internet als eine »Metapher für die spontane Ordnung«, die sich der neoliberale Ökonom Friedrich Hayek vorgestellt hatte. Laut Gilder zeige das Web, dass »man kein strikt reglementiertes Kontrollsystem braucht, um ein überaus reichhaltiges Gefüge an Dienstleistungen zu bekommen«.
Drei Jahrzehnte später hat die digitale Realität Gilders Fantasie von dieser großen Freiheit widerlegt. Denn der heutige, von Profitstreben geprägte Cyberspace ist zu einem algorithmisch kontrollierten Raum geworden, in dem die Spielregeln ausschließlich von den Interessen der großen Technologieunternehmen bestimmt werden. Rein technisch mag dieser Raum nach wie vor eine »öffentliche Sphäre« sein, aber innerhalb dieser Sphäre ist so etwas wie beispielsweise Redefreiheit weitgehend eine Illusion. Schließlich bestimmen die Tech-Riesen, welche Posts auf den Plattformen besonders beworben und prominent platziert werden, welche unbemerkt bleiben – und welche sogar aktiv blockiert werden.
Im übertragenen Sinne ging es beim Konflikt in Brasilien nicht nur um die Regulierung einer Social-Media-Seite oder um Meinungsfreiheit. Vielmehr ist die Frage, inwiefern ein Land überhaupt die Möglichkeit hat, über sein digitales Schicksal und seine Zukunft mitzubestimmen. Steuervermeidung, die Schwächung der freien demokratischen Willensbildung, der Missbrauch von Marktmacht sowie Einflussnahme bei wichtigen gesetzlichen Rahmenbedingungen (beispielsweise Klimastandards für Unternehmen) sind allesamt Alarmsignale für die stetig wachsende Macht von Big Tech.
»Amazon, Microsoft und Google haben einen Panoramablick auf den globalen Kapitalismus.«
Die gute Nachricht ist, dass man sich auf beiden Seiten des Atlantiks dieser Probleme in Form von diversen Kartellverfahren annimmt. Die weniger gute Nachricht ist, dass fast keiner dieser wettbewerbsrechtlichen Prozesse die existenzielle Bedrohung, die Big Tech für freie Gesellschaften darstellt, an der Wurzel packt.
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Cecilia Rikap ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften am Institute for Innovation and Public Purpose des University College London und Autorin des Buches Capitalism, Power and Innovation: Intellectual Monopoly.
Cédric Durand ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Genf. Kürzlich erschien von ihm How Silicon Valley Unleashed Techno-Feudalism: The Making of the Digital Economy.