09. Januar 2024
Um Europa gegen Geflüchtete abzusichern, beschließt die EU vermehrt Migrationsabkommen mit afrikanischen Regierungen. Dafür nutzt sie erpresserische Schuldbeziehungen, die sie selbst geschaffen hat. Mit dieser neokolonialen Politik verurteilt Europa tausende Geflüchtete zum Tod.
Mitglieder der afrikanischen Community in Barcelona demonstrieren am Jahrestag des Massakers von Melilla, 24. Juni 2023
Am 27. November 2023 erklärte General Abdourahamane Tiani, Generalsekretär der Militärjunta der nigrischen Regierung, die einseitige Aufhebung von zwei Migrationsabkommen, die der ehemalige Präsident Mahmadou Issoufou 2015 mit der Europäischen Union ausgehandelt hatte. Vor allem setzte Tiani das Gesetz 36-2015 außer Kraft. Dieses bestrafte bisher den Transport von migrierenden Menschen – insbesondere jenen auf dem Weg Richtung Norden. Über die wahrscheinlichen Folgen dieses Schrittes wurde seither viel spekuliert. Oft, allerdings, am Kern der Sache vorbei.
Betrachten wir den Schritt im größeren Kontext ist klar: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass die Aufkündigung des Gesetzes eine Massenmigration nach Europa auslösen wird. Die EU übt nach wie vor Kontrolle über Migrationsrouten in der Region aus, und das mit mehr Härte und Brutalität als noch vor zehn Jahren. Ebenso wenig ist der Schritt als Zeichen einer sich veränderten Machtbeziehung zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonisatoren zu verstehen, so wünschenswert diese auch sein möge. Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen der allermeisten an Niger grenzenden und an wichtigen nordafrikanischen Migrationsrouten liegenden Staaten fest in neokolonialen Strukturen eingebettet.
Denn seit der Finanzkrise 2007 und noch verstärkt seit Beginn der Covid-19 Pandemie hat sich das Machtgefälle zwischen EU und Nordafrika stetig vertieft. Die EU ist durch ökonomische Erpressung in der Lage Kooperation in Migrationsfragen zu erzwingen. Und von dieser Möglichkeit macht sie systematisch Gebrauch: von Mauretanien bis Ägypten und von Marokko bis Sudan hat die EU »Migrationsabkommen« abgeschlossen, indem sie nordafrikanische Regierungen, ob demokratisch oder autoritär, erpresst oder bestochen hat. Die einzigen derzeitigen Ausnahmen sind Niger und Algerien. Um globale Machtverhältnisse zu kippen braucht es jedoch mehr als zwei Staaten.
Diesem Machtgefälle unterliegen nicht nur die Sahelzone oder Afrika. Die große Mehrheit der Staaten des Globalen Südens sind auch nach der formellen Dekolonisierung in einer neokolonialen Weltordnung gefangen. Diese Ordnung ist keinesfalls rein wirtschaftlich zu verstehen. Es handelt sich auch um ein explizit politisches Projekt, dass die gesellschaftliche Trennung zwischen Süden und Norden aufrechterhält. Zwar konnten sich einige ehemals kolonisierte Staaten, wie China, aus den Fängen des Neokolonialismus befreien. Anderen, wie den Golfstaaten, ist es gelungen, durch Extraktivismus ein relativ hohes Maß an wirtschaftlicher und politischer Macht zu erlangen. Die zentrale Trennungslinie zwischen Arm und Reich verläuft jedoch nach wie vor zwischen den ehemaligen Kolonien und Kolonisatoren.
Der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic hat in seinen empirischen Untersuchungen gezeigt, dass Staatsbürgerschaft der entscheidende Faktor für die Bestimmung durchschnittlicher individueller Vermögens- und Einkommensungleichheit ist. In diesem Sinne schließt das moderne Staatsbürgerschaftssystem an seinen kolonialen Vorgänger an. Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurde die Staatsbürgerschaft von den herrschenden Klassen der kolonisierenden Länder genutzt, um die Mitglieder ihres Reiches auf Basis rassistischer Kriterien und Geschlecht zu unterteilen. Heute gibt es eine globale Hierarchie der Staatszugehörigkeit, nach der den jeweiligen Mitgliedern nicht nur Status, Rechte und Pflichten, sondern auch Wohlstand und Einkommen zugeteilt werden.
»Die Migrationsrouten von Süden nach Norden kennzeichnet eine sogenannte selektive Offenheit.«
Der Zugang zu Staatsbürgerschaften ist auf Basis rassistischer Kriterien organisiert. Die Staatsangehörigkeiten, die – global betrachtet – ein relativ hohes Einkommen und überwiegend angenehme Lebensumstände mit sich bringen, werden vom Großteil der weißen Bevölkerung auf diesem Planeten per Geburt erworben. Pässe von EU-Staaten oder aus Nordamerika bedeuten für ihren Besitzenden das Recht – wenn auch nicht notwendigerweise die Mittel – fast überall auf der Welt zu leben und auch die jeweilige Staatsangehörigkeit zu erwerben. Menschen mit Pässen aus ehemaligen Kolonien, wiederum, erleben das genaue Gegenteil.
Die Migrationsrouten von Süden nach Norden kennzeichnet eine sogenannte selektive Offenheit. Die Eliten in der Peripherie haben Zugang zu Einbürgerungsverfahren und können die begehrtesten Staatsbürgerschaften käuflich erwerben. Der absolute Anteil der Einbürgerungen aus Ländern des Globalen Südens in den Globalen Norden ist jedoch im Gegensatz zu Nord-Nord-Bewegungen verschwindend gering. Zeitgleich wird die Einwanderung von Arbeiterinnen und Arbeitern bestimmter Berufe und Branchen in den kapitalistischen Zentren des Globalen Nordens durch verschiedene Programme gefördert. Diese Formen der sogenannten »regulären Migration« gelten für die Eliten in den kapitalistischen Zentren als wünschenswert und werden als politisches Ziel verfolgt. Im Gegensatz dazu wird die sogenannte »irreguläre Migration« als Bedrohung dargestellt und gewaltsam unterdrückt.
Aus der politischen Wende in Niger lässt sich kein grundsätzlicher Wandel dieses Systems ableiten. Vielmehr deuten die aktuellen Entwicklungen in die genau entgegengesetzte Richtung. Nach der Finanzkrise 2007 und insbesondere seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich die ökonomische Situation der nordafrikanischen Staaten rapide verschlechtert. Die Staaten im nördlichen Afrika sind zwar politisch und wirtschaftlich sehr verschieden, aber parallele Entwicklungen sind durch die Bank weg sichtbar. Der Grad der Abhängigkeit – und damit die Anfälligkeit für Erpressung und Bestechung aus dem Globalen Norden – haben entsprechend zugenommen. Konkret bedeutet das: Die Auslandsverschuldung von Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Sudan, Tschad, Nigeria, Niger, Mali und Mauretanien – Libyen ist aufgrund der schlechten Datenlage nicht berücksichtigt – ist von 124 Milliarden Dollar im Jahr 2007 auf 376 Milliarden Dollar 2021 gestiegen, und hat sich somit mehr als verdreifacht. Im Verhältnis zum BIP ist das ein durchschnittlicher Anstieg von 213 Prozent. Die jährlichen Zinszahlungen in der Region sind seit 2007 sogar um 339 Prozent gestiegen und beliefen sich im Jahr 2021 auf über 10 Milliarden US-Dollar.
Die Refinanzierungsbedingungen für die wenigen Staaten der Region, die es noch wagen, in US-Dollar denominierte Staatsanleihen auszugeben – Nigeria, Ägypten, Tunesien und Marokko – haben sich ebenfalls drastisch verschlechtert. Am 1. Dezember dieses Jahres zahlten diese vier Länder durchschnittlich 14 Prozent Zinsen auf privat im Ausland gehaltene Staatsanleihen. 2020 lag der Zinssatz noch bei 5 Prozentpunkten. Zum Vergleich: Deutschland zahlt derzeit nur einen Zinssatz von rund 2,5 Prozent auf Staatsanleihen. Diese auseinanderklaffenden, ungleichen Bedingungen sind das Ergebnis gezielter Geldpolitik der kapitalistischen Zentren des Globalen Nordens. Diese hat zum Zweck, die eigenen Währungen zu stärken und zugleich die wirtschaftlichen Kosten der eigenen Krise auf den globalen Süden abzuwälzen. Ein Muster, das eine lange Tradition hat.
»Der Einsatz von Entwicklungszusammenarbeit zur Verhinderung von Migration ist schon in sich ein Widerspruch.«
Diese Konstellation zwingt nordafrikanischen Länder dazu, mit allen Mitteln an US-Dollar und Euro-Liquidität zu kommen. Da sich die Bedingungen auf den privaten Märkten erheblich verschlechtert haben, sind multi- oder bilaterale Quellen oft die einzig verbleibende Wahl. Es ist deswegen wenig überraschend, dass der Gesamtbetrag der von IWF und Weltbank an nordafrikanische Staaten vergebenen Krediten, seit 2007 um fast 600 Prozent gestiegen ist. Diese Entwicklung markiert ein neues Zeitalter der Abhängigkeit und zwingt die Staaten an die Kredite geknüpften Bedingungen, wie etwa die Kürzung von Gesundheitsausgaben während einer globalen Pandemie, zu akzeptieren. Bislang ist der IWF nachweislich erst ein Mal, im Fall des mit Tunesien geschlossenen Abkommens, in von der EU erzwungenen Migrationsabkommen involviert gewesen. Dabei dürfte es sich aber nur um einen Testlauf handeln.
Gesamtsumme Kredite von IWF und Weltbank an nordafrikanische Staaten<br>
Ein weiterer bereitwilliger Geldgeber ist die EU. Jüngsten Schätzungen zufolge wurden Staaten außerhalb ihres Hoheitsgebietes zwischen 2014 und 2020 mehr als 13 Milliarden Euro zur Verhinderung von Migration nach Europe zur Verfügung gestellt. Offiziell laufen diese Zahlungen unter dem Deckmantel der Entwicklungspolitik. Ein gutes Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen der EU und Tunesien, das federführend von der Postfaschistin Giorgia Meloni vermittelt und ausgehandelt wurde. Während das Abkommen zunächst als eine Form der Entwicklungszusammenarbeit dargestellt wurde, zeigen kürzlich veröffentlichte Details, dass der Fokus auf der Verhinderung illegalisierter Migration liegt, während die Freizügigkeit der tunesischen Eliten durch ein Erasmus-Programm gefördert werden soll. All das im Namen der Entwicklung.
Dabei ist der Einsatz von Entwicklungszusammenarbeit zur Verhinderung von Migration schon in sich ein Widerspruch. Seit den 1990er Jahren herrscht in den Migrationswissenschaften weitgehende Einigkeit, dass wirtschaftliche Entwicklung die Auswanderung verstärkt. Die EU scheint nichtsdestotrotz entschlossen, derartige Programme noch auszuweiten. Seit 2021 hat die EU 14 erneuerte oder neue Migrationsabkommen bekanntgegeben. Dabei liegt der zentrale regionale Fokus auf Nordafrika. Ein zweiter strategischer Schwerpunkt ist in Osteuropa und den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens angesiedelt. Außerdem ist die EU aktuell bemüht, Ägypten, Mauretanien und den Senegal zu zwingen, Bewegungsfreiheit und Asylrechte in ihrem Namen einzuschränken. Diese Politik läuft allerdings selten widerstandlos ab. So wurde z. B. im Senegal kürzlich eine Kampagne mit dem Ziel die Tätigkeiten von Frontex im Land zu stoppen ins Leben gerufen. Sie prangern an »wie die EU mit [ihren] Regimen zusammenarbeitet, um Menschen im Mittelmeer und in den Transitländern zu töten«.
Dieses zunächst abstrakte System wirtschaftlicher und politischer Erpressung wird zu gezielt eingesetzter tödlicher Gewalt gegen Menschen, die sich auf den so genannten irregulären Migrationsrouten nach Europa bewegen und dabei den falschen Pass halten. Dazu gehören die 37 Menschen, die Spaniens und Marokkos Grenzbeamte im Sommer 2022 am Zaun von Melilla massakrierten, die 49 Toten und mehr als 200 Vermissten an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen, die 603 Toten auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln allein im Jahr 2023, die 28.260 Menschen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind und auch die 2.016 Menschen, die seit 2018 auf den nordafrikanischen Landrouten starben – ganz zu schweigen von der um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer. Direkte und indirekte, aktive und aufgetragene Tötungen sind das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
»Während einige Klassen von Migranten auf ihrem Weg nach Europa gezielt umgebracht werden, werden andere dazu ermutigt, die demografischen Lücken in arbeitenden Bevölkerung in der EU zu füllen.«
Die Absichten dahinter sind klar: Man leugnet jegliche Menschlichkeit und jegliche Rechte von Menschen auf der Flucht. Man lässt sie noch weit vor den Grenzen Europas sterben, damit man nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann. Oder noch besser: Man macht direkt afrikanische Regierungen dafür verantwortlich, was Unterstützer einer weißen Vorherrschaft in Europa entschieden haben. Die rassifizierte Trennung zwischen den Menschen des globalen Südens und des globalen Nordens ist völlig intakt. Die Tötung von mehr als 30.000 unschuldigen Menschen ist nur möglich, weil sie keine Angehörigen von Staaten des Globalen Nordens, und nicht weiß sind.
Zeitgleich hat die Europäische Kommission erst letzten Monat neue Maßnahmen vorgeschlagen, um »Fähigkeiten und Talente« anzuziehen. Angetrieben von Optimismus über Auswirkungen des angekündigten grünen und digitalen Wandels will die EU mindestens 12 Millionen zusätzlicher Immigranten anziehen und auf ihrem Boden ausbeuten. Auch das ist eine gezielte politische Entscheidung: Während einige Klassen von Migranten auf ihrem Weg nach Europa gezielt umgebracht werden, werden andere dazu ermutigt, die demografischen Lücken in arbeitenden Bevölkerung in der EU zu füllen. Das Ziel dieser Politik ist eine gespaltene Arbeiterklasse mit großem, rassifizierten Anteil zu schaffen, die in ständiger Aufenthaltsprekarität lebt. Denn diese Arbeitskräfte sind leichter zu disziplinieren, auszubeuten und zu unterdrücken. Unsichere Aufenthaltstitel sind so zu einem wichtigen Instrument geworden, um eine ständig verfügbare Niedriglohnklasse und auch eine potenzielle Reservearmee an Arbeitskräften aufzubauen.
Nigers Schritt zur Verbesserung der Freizügigkeit ist also nur ein Tropfen in einem Meer von struktureller, rassistischer Trennung und wirtschaftlicher Erpressung. Nichtsdestotrotz lassen sich aus den jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der EU und nordafrikanischen Staaten drei Lehren ziehen.
Erstens: Die kapitalistischen Zentren und insbesondere die EU sind auf Zusammenarbeit angewiesen. Das gilt nicht nur für die Verhinderung von Migration, sondern auch für die von den Staats- und Regierungschefs so glorreich inszenierte und doch stagnierende Energiewende. Lithium ist beispielsweise eine jener seltenen Erden, die für die Energiewende unverzichtbar sind. Doch die bei weitem größten Vorkommen befinden sich außerhalb Europas. Die europäischen Bemühungen, die Lithiumvorkommen auf europäischem Boden zu erschließen, reichen nicht im Ansatz zur Erfüllung notwendiger Bedarfe. Ähnlich verhält es sich mit den meisten anderen seltenen Erden, die die europäische Industrie so dringend benötigt, um im weltweiten Wettbewerb um Elektrifizierung von Produktion und Transport überhaupt eine Chance zu haben. Darüber hinaus fehlen der EU sowohl das Territorium als auch die fossilen Ressourcen, um ein unabhängiges Energiesystem zu entwickeln. Derzeit ist die EU in hohem Maße von LNG-Importen abhängig. Algerien spielt für die Versorgung inzwischen eine zentrale Rolle. In Zukunft wird die EU von großflächigen Solaranlagen in Nordafrika abhängig sein, wo die Solarenergieerzeugung bis zu dreimal effizienter ist als in Europa. Verhandlungen über die Bedingungen der Kooperation finden aktuell statt. Die Gestaltung zukünftiger Energiemärkte bietet also schonmal ein mögliches Einfallstor für einen Wandel.
»Die Entscheidung der nigrischen Regierung aus dem Abkommen mit der EU auszusteigen, wurde in der Region als antikolonial gefeiert. Richtigerweise.«
Zweitens ist Algerien ein eindrucksvolles Beispiel für eine strikte Linie der absoluten Ablehnung europäischer Einmischung in seine politischen Angelegenheiten. Diese klare Haltung ist das Ergebnis des kollektiven Traumas, das der französische Kolonialterror verursacht hat, und hat den Charakter einer Staatsraison. Das algerische politische System, ist allerdings zutiefst autoritär, und weit entfernt von einer Utopie. Es lässt wenig Raum für demokratische Politik, auch wenn die Hirak-Bewegung trotz schwerer Repressionen wesentliche Veränderungen bewirken konnte. Es kann auch nicht unterschlagen werden, dass die algerische Regierung Migration mit brutaler Gewalt, die oft den Tod unschuldiger Menschen zur Folge hat, bekämpft. Sie tut dies auf der Grundlage eines nationalen Sicherheitsregimes, dessen Ziel die strikte Kontrolle über Auswanderung, den Transit nach Europa und Einwanderung ist. Allerdings beugt sich Algerien hierbei ausdrücklich nicht den politischen Interessen der EU. Sowohl die Gestaltung der algerischen Integration in die Weltwirtschaft als auch sein Ressourcenreichtum erlauben es der Regierung politischem Druck der EU und multilateraler Institutionen auszuhalten, ohne einzuknicken. Hilfreich hierbei: nur 1 Prozent der Staatsschulden befindet sich in ausländischer Hand. Verschuldung in US-Dollar gibt es nicht. Das entzieht ökonomischer Erpressung den Hebel.
Drittens: Politischer Widerstand gegen den Neokolonialismus ist möglich. Die Entscheidung der nigrischen Regierung aus dem Abkommen mit der EU auszusteigen, wurde in der Region als antikolonial gefeiert. Richtigerweise. Die Aufkündigung sollte durchaus als ein weiterer Schritt zur Vertreibung der Kolonialmächte und ihres politischen Einflusses interpretiert werden. Allerdings bergen der zunehmende politische Einfluss und die wachsende wirtschaftliche Bedeutung Russlands, Chinas und der Golfstaaten in der Region die Gefahr, neue Abhängigkeitsbeziehungen zu anderen kapitalistischen Mächten zu schaffen.
Bestenfalls führt eine sich verstärkende Solidarität und politische Organisierung zwischen den Menschen der nordafrikanischen Staaten zu einer koordinierten antikolonialen Bewegung, die sich die Vorteile der Zusammenarbeit mit den kapitalistischen Machtzentren zunutze macht und dabei ihre Souveränität und Autonomie ausbaut und bewahrt. In diesem, angesichts der starken politischen Spannungen zwischen den Regierungen in der Region zugegebenermaßen sehr optimistischen Szenario, würde sich niemand mehr für die Festung Europa interessieren oder auch nur in Erwägung ziehen, sein Leben für Migration zu einem Kontinent zu riskieren, der zunehmend von Rassisten regiert wird.
Robin Jaspert ist Politökonom und promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er forscht zu Staatsfinanzen, Süd-Nord-Beziehungen, Fiskal- und Geldpolitik.