06. Dezember 2024
Der Philosoph Martin Hägglund spricht über »Dieses eine Leben«, sein neues Buch über Liebe, Reichtum und Karl Marx.
»Das ewige Leben ist nicht nur unerreichbar, sondern auch nicht wünschenswert.«
»Es rettet uns kein höh’res Wesen« – mit diesen Worten beginnt die zweite Strophe der Internationale, jener weltbekannten Hymne der Arbeiterbewegung. Dies wurde gemeinhin als eine Absage an den religiösen Glauben verstanden. Folgt man Martin Hägglund, steckt darin aber zugleich auch ein Bekenntnis zu einem andersartigen, säkularen Glauben, für den das diesseitige Leben und das Wohlergehen der Menschen im Hier und Jetzt der höchste Wert ist.
Hägglund, der Geisteswissenschaften und Komparatistik an der Yale University lehrt, hat mit seinem Buch Dieses eine Leben. Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus eine umfassende Darstellung dieses Glaubenskonzepts vorgelegt, das nach seiner Auffassung schon immer da war, aber noch darauf wartet, bewusst angenommen zu werden. Meagan Day sprach mit Hägglund darüber, wie wir mit dem Tod umgehen, wie wir Sinn aus unserem Leben ziehen und was uns motiviert, uns für Freiheit, Demokratie und Sozialismus einzusetzen.
Als
Erstes möchte ich sagen: Ich habe es geliebt, Dieses
eine Leben
zu lesen. Dein neues Buch hat mich wegen seines politischen Inhalts
angezogen, aber die Lektüre wurde für mich zu einer Meditation über
das Leben und die Sterblichkeit.
Selbst
wenn ich es versuche, kann ich nicht an das Leben nach dem Tod
glauben. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass es eine gute Seite
hat, nicht an den Himmel zu glauben; dass es mich zwar mit Angst
erfüllt, mich aber auch dazu zwingt, mein endliches Leben zu nutzen.
Aber ich bin noch nie auf eine so stringente philosophische
Argumentation gestoßen, die diesen Gedanken unterstützt.
Du
definierst »geistige Freiheit« als die Fähigkeit, sich frei die
Frage zu stellen und zu beantworten, was wir mit unserer Zeit
anfangen sollen. Du argumentierst, dass der religiöse Glaube, oder
der Glaube an eine Ewigkeit im Himmel, Probleme für diese geistige
Freiheit aufwirft. Der Glaube an die Ewigkeit sagt uns, dass wir
unsere Zeit damit verbringen sollten, uns auf das Leben nach dem Tod
vorzubereiten.
Du
bietest uns mit der Idee eines säkularen Glaubens eine Alternative
zu diesem Erlösungsversprechen der Religion: eine Hingabe an dieses
eine Leben, nicht an das nächste. Was genau ist säkularer Glaube?
Und wie fördert er unsere Fähigkeit, geistige Freiheit zu erfahren?
Was den säkularen Glauben am grundlegendsten definiert, ist, dass das Objekt des Glaubens völlig von der Praxis des Glaubens abhängt. Was auch immer das Objekt des säkularen Glaubens sein mag – die Institutionen, die wir aufzubauen versuchen, die sozialistische Revolution, die wir herbeiführen wollen, die Gemeinschaften, die wir aufrechterhalten, oder sogar persönliche Liebesbeziehungen – diese Dinge existieren nicht unabhängig von der Art und Weise, wie wir uns ihnen widmen und sie unterstützen.
In diesem Sinne hat jeder einen säkularen Glauben. Ich versuche nicht, die Welt in religiöse und säkulare Menschen aufzuteilen. In dem Buch geht es nicht um das, was uns trennt, sondern um das, was wir gemeinsam haben. Wir alle haben einen säkularen Glauben. Was auch immer Dir am Herzen liegt, wofür Du Dich engagierst, Du musst daran glauben, dass es inhärent wertvoll ist und dass es zerbrechlich und endlich ist – sonst würdest Du Dich nicht darum kümmern. Jeder Mensch hat also eine gelebte Erfahrung von säkularem Glauben, wenn er sich engagiert und Projekte durchführt – ob er es weiß oder nicht.
»Wenn das höchste Objekt des religiösen Glaubens etwas Ewiges ist, dann ist das höchste Objekt des säkularen Glaubens etwas Endliches, dieses zerbrechliche Leben, das wir gemeinsam erhalten.«
Was ich als religiösen Glauben bezeichne, ist die entgegengesetzte Vorstellung. Es gibt hier ein ganz besonderes Objekt des Glaubens, wie Gott, die Ewigkeit oder das Nirwana – etwas, das unabhängig und ewig existiert und letztlich nicht von der Ausübung des Glaubens abhängt. Der religiöse Glaube beruht auf der Vorstellung, dass das endliche Leben nicht ausreicht, dass es etwas darüber hinaus geben muss.
Wenn das höchste Objekt des religiösen Glaubens etwas Ewiges ist, dann ist das höchste Objekt des säkularen Glaubens etwas Endliches, dieses zerbrechliche Leben, das wir gemeinsam erhalten. Es existiert nur durch die Art und Weise, wie wir es erhalten, und es kann auseinanderfallen, wenn wir es nicht erhalten. Aber genau das macht unsere Hingabe an dieses Leben so wichtig.
Die entscheidende Frage ist für mich daher, was es bedeuten würde, sich zu unserem säkularen Glauben zu bekennen und ihm gerecht zu werden – sowohl individuell als auch kollektiv. Ich möchte auch zeigen, dass es in den religiösen Texten selbst Ressourcen gibt, um sich dieser Frage zu nähern.
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Martin Hägglund ist Philosoph und Literaturwissenschaftler und lehrt an der Yale University. Sein Buch Dieses eine Leben. Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus ist 2024 bei C. H. Beck erschienen.