03. Mai 2023
In seinem jüngsten Buch gibt sich Star-Ökonom Thomas Piketty erstaunlich optimistisch: Wenn wir an die Errungenschaften der Vergangenheit anknüpfen, können wir eine Welt der Gleichheit aufbauen. Im JACOBIN-Interview erklärt er, warum es dazu eine Erneuerung sozialistischer Politik braucht.
Thomas Piketty, Sozialist
Imago/PUBLICATIONxNOTxINxFRAMit seinen Studien zum Kapital im 21. Jahrhundert hat der französische Ökonom Thomas Piketty der Welt wie kaum ein anderer das erschreckende Ausmaß heutiger Ungleichheiten vor Augen geführt. Nun hat er ein erstaunlich optimistisches Buch nachgelegt. Eine kleine Geschichte der Gleichheit ist ein Plädoyer für einen »partizipatorischen Sozialismus« und wesentlich kompakter als die Wälzer, mit denen er berühmt wurde.
Seit kurzem ist die deutsche Übersetzung des Buches für kleines Geld erhältlich. Im Gespräch mit JACOBIN erzählt Piketty, warum die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte auch eine Geschichte wachsender Gleichheit war. Denkt man die großen Errungenschaften der Vergangenheit weiter, so sein Argument, weist der Bogen der Geschichte in Richtung des Sozialismus.
LW: Vor drei Jahren erschien eine Sammlung Ihrer Kolumnen unter dem Titel »Es lebe der Sozialismus!« Im Vorwort schreiben Sie, Sie hätten es sich in den 1990er Jahren, als eher liberal-zentristisch orientierter VWL-Student, nicht im Traum vorstellen können, eines Tages ein Plädoyer für den Sozialismus zu schreiben. Was hat Sie radikalisiert?
Piketty: (lacht) Ich würde das gar nicht als Radikalisierung bezeichnen. Ich betrachte es eher als eine Reifung oder einen Lernprozess. Es war meine eigene Forschung zur Entwicklung der Ungleichheit, die mich die Dinge zunehmend anders sehen ließ. Ich wurde 1971 geboren und war also achtzehn Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel und der Kommunismus zusammenbrach. Meine ersten Reisen während des Studiums gingen nach Osteuropa und nach Moskau. Natürlich war ich über die Verbrechen des Sowjetkommunismus extrem bestürzt – das bin ich immer noch. Vor diesem Hintergrund glaubte ich Anfang der 1990er Jahre, dass Marktliberalisierung und mehr Wettbewerb die Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme sei, wie übrigens sehr viele andere zur damaligen Zeit.
Aber das änderte sich im Zuge meiner Forschung über die Entwicklung der Ungleichheit, angefangen mit meinem 2001 erschienenen Buch Les Hauts revenus en France au XXe siècle [»Die Geschichte der Spitzeneinkommen in Frankreich«]. Mir wurde klar, dass es ganz und gar nicht der Markt war, der für den Fortschritt in Richtung einer gleicheren Gesellschaft verantwortlich war, wie wir ihn im 20. Jahrhundert beobachten können. Dieser Fortschritt war das Ergebnis scharfer sozialer und politischer Kämpfe und ihrer Errungenschaften, wie der progressiven Einkommensbesteuerung. Und hier kommt der Sozialismus ins Spiel. Denn der Sozialismus war die zentrale Idee, die all diese Mobilisierungen leitete. Wenn wir heute den nächsten Schritt in Richtung größerer Gleichheit machen wollen, dann müssen wir zu dieser Idee zurückkehren.
Wie reiht sich Ihr neuestes Buch Eine kurze Geschichte der Gleichheit in diese intellektuelle Entwicklung ein?
Vor allem versuche ich hier, eine kürzere Synthese meiner früheren, viel längeren Bücher zu liefern. Und ich versuche, die historische Erzählung herauszustellen, die sich durch alle Bücher zieht. In all meinen Büchern geht es auf verschiedenen Ebenen um die gerade erwähnte komplexe und widersprüchliche Bewegung hin zu mehr Gleichheit. Damit meine ich politische Gleichheit, wie das demokratische Wahlrecht, aber auch soziale und wirtschaftliche Gleichheit. Diese Geschichte, wie ich sie erzähle, beginnt mit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Zum Einen nahm die Französische Revolution dem Adel seine Steuerprivilegien weg und läutete damit den Anfang vom Ende der Feudalgesellschaft ein. Zum Anderen markierte der Aufstand der schwarzen Jakobiner in Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, im Jahr 1791 den Anfang vom Ende der Sklavenhaltergesellschaften und des Kolonialismus. Diese beiden parallelen Bewegungen sind in gewisser Weise bis heute im Gange, in Form von Protesten gegen Sozialkürzungen und Preissteigerungen oder der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Prozesse dieser Art brauchen sehr lange, um erfolgreich zu sein, aber im Großen und Ganzen waren sie bereits unglaublich erfolgreich. Man denke nur an die Abschaffung der Sklaverei, das allgemeine Wahlrecht für Männer und später für Frauen, die Arbeiterbewegung, die Entstehung der Sozialversicherung und der progressiven Besteuerung. Später die Entkolonialisierung, die Bürgerrechte und das Ende der Apartheid. Wir leben in einer radikal ungleichen Welt, und unsere Länder sind weit davon entfernt, wirklich demokratisch zu sein. Aber wenn wir sie mit der Zeit des Feudalismus, der Sklaverei und des Kolonialismus vergleichen, können wir vom letzten Jahrhundert als einer Bewegung zu mehr Gleichheit sprechen.
Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: Wie können wir diese Bewegung fortsetzen? Welches Erbe der vergangenen Kämpfe findet sich in unseren institutionellen, steuerlichen, rechtlichen und politischen Systemen – und wie können wir sie vertiefen? Der Fluchtpunkt dieser Bewegung ist die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus. Wie ich in meinem Buch beschreibe, meine ich damit einen Sozialismus, der feministisch, multikulturell, internationalistisch und ökologisch ist. Dieser Sozialismus knüpft an die größten Errungenschaften unserer Vergangenheit an, baut aber auch auf der Erkenntnis auf, dass wir noch viel weiter gehen können und sollten.
Was sind Beispiele für dieses Erbe, das wir heute wieder aufgreifen können?
Zunächst einmal ist es wichtig, den Prozess der Dekommodifizierung fortzusetzen, also den Einfluss der Märkte auf unser Leben zu begrenzen. Das sieht man zum Beispiel im Bildungswesen. Der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert, insbesondere in West- und Nordeuropa, bestand nicht nur aus Sozialtransfers. Er bestand auch aus dem Aufbau ganzer Wirtschaftssektoren, die außerhalb der Logik des Profitmotivs arbeiten, angefangen mit dem Bildungs- und Gesundheitssektor. Es zeigt sich, dass das nicht nur funktioniert, es funktioniert sogar viel besser als ein privates Gesundheits- oder Bildungssystem, das nach dem Profitmotiv organisiert ist. Profitorientierte Bildungseinrichtungen à la Trump University sind eine absolute Katastrophe.
Das Gewinnstreben mag in einigen Bereichen und in begrenztem Maße ein sinnvolles Prinzip sein. Aber die meisten Sektoren funktionieren ohne es viel besser. Am deutlichsten zeigt sich das in Bereichen wie Bildung und Pflege, aber auch Journalismus und Kultur, wo jene intrinsische Motivation, die gute, sorgfältige Arbeit hervorbringt, regelrecht zerstört werden kann, wenn man nur auf monetäre Anreize und die Logik des Marktes setzt. Aber dasselbe gilt auch für viele andere Bereiche. Die Bewegung zur Dekommodifizierung immer größerer Teile der Wirtschaft ist ein historischer Trend, der sehr erfolgreich war und weitergehen sollte. Vor allem, wenn sie mit neuen Formen dezentraler, demokratischer Leitung einhergeht, zum Beispiel in Form von Vereinen oder Stiftungen, die mit lokalen Regierungen zusammenarbeiten.
Ein weiteres Thema, das Sie schon in früheren Arbeit aufgegriffen haben, betrifft die Umverteilung von Vermögen. Es ist immer noch relativ unüblich, über diese Form der Umverteilung zu sprechen und nicht nur über die Umverteilung von Einkommen.
Ja genau, und tatsächlich sind die Einkommen der Bereich, in dem wir im letzten Jahrhundert einige Fortschritte in Richtung einer gerechteren Verteilung gemacht haben. Aber beim Reichtum haben wir so gut wie gar keine Fortschritte gemacht. In Deutschland oder Frankreich besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung heute 3 oder 4 Prozent des Reichtums des Landes. 3 Prozent für 50 Prozent der Bevölkerung! Im 19. Jahrhundert waren es 1 oder 2 Prozent. Der Fortschritt ist also wirklich marginal. Das heißt auch, dass es dumm wäre zu hoffen, dass mehr Wachstum oder mehr Wettbewerb auf freien Märkten ausreichen könnte, um zu einer gerechteren Vermögensverteilung zu kommen – das hätten wir schon längst gesehen.
Was wir brauchen, ist eine aktive Umverteilung von Vermögen. Meiner Meinung nach lässt sich dies am besten durch eine universelle Mindesterbschaft erreichen, die jeder im Alter von 25 Jahren erhält. Diese Summe sollte mindestens 60 Prozent des Durchschnittsvermögens im jeweiligen Land betragen. In Frankreich oder Deutschland wären das heute etwa 120.000 Euro. Zum Vergleich: Menschen, die zu den reichsten 10 Prozent gehören, erhalten heute im Durchschnitt Erbschaften in Höhe von von 1 Million Euro. Das heißt, selbst wenn wir das Mindesterbe mit einer stark progressiv gestalteten Vermögenssteuer finanzieren würden – was wir meiner Meinung nach tun sollten – , hätten die Reichsten immer noch einen enormen Vorteil gegenüber dem Rest. Wir können da also sicherlich noch viel weiter gehen, als mein Vorschlag es tut. Aber es würde die gigantische Chancenungleichheit, die wir heute sehen, bereits erheblich verringern, wenn jene Vielen, die heute genau 0 Euro erben, 120.000 Euro bekommen würden.
Dies ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Verhandlungsmacht in der Gesellschaft. Wenn man auf ein gewisses Vermögen zurückgreifen kann, braucht man nicht jede Arbeitsbedingungen und jeden Lohn akzeptieren. Man kann Stellenangebote ablehnen und man kann anfangen, zu verhandeln. Vermögen in der Hinterhand versetzt einen immer in eine viel stärkere Verhandlungsposition. Das macht ein Mindesterbe auch zu einer wichtigen Ergänzung des Grundeinkommens oder anderer Transfers. Ein Grundeinkommen würde in etwa 50 bis 75 Prozent eines Vollzeit-Mindestlohns betragen. Das ist ein wichtiges Sicherheitsnetz, aber es reicht nicht aus. Denn die eigene Verhandlungsposition ist immer noch schwach. Wenn man aber zusätzlich zu einem Grundeinkommen noch 120.000 Euro als Mindesterbschaft erhält – und dies noch mit einer staatlichen Jobgarantie kombiniert, wie sie jetzt zunehmend diskutiert wird –, dann macht das einen echten Unterschied.
Die Umverteilung von Vermögen und die Befreiung ganzer Wirtschaftssektoren aus der Profitlogik sind auch Schritte, um die Macht der Kapitaleigner zu schwächen und die der Lohnabhängigen zu stärken. Ihre Vorschläge zur Wirtschaftsdemokratie weisen in eine ähnliche Richtung. Können Sie die erläutern?
Meine Vorschläge setzen bei Regelungen wie dem deutschen Montan-Mitbestimmungsgesetz oder ähnlichen Gesetzen in Schweden an. Diese sehen vor, dass in bestimmten Großkonzernen die Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten die Hälfte der Stimmrechte in den Aufsichtsräten innehaben. Solche Systeme sind nicht ausreichend und haben ihre eigenen Probleme. Aber sie sind ein sehr guter Ausgangspunkt, der vertieft werden kann, um eine breitere Verteilung der Macht in der Gesellschaft zu ermöglichen und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Kontrolle über ihre Arbeitsplätze zu geben. Zuallererst müssten wir dafür in jenen Ländern Mitbestimmungsrechte einführen, in denen es sie nicht gibt. Und wir müssen sie auch über die sehr großen Unternehmen hinaus ausweiten, auf die sie derzeit begrenzt sind. Ich meine damit keine kleinen Start-ups oder Tante-Emma-Läden, aber, sagen wir, alle Unternehmen mit mehr als hundert Beschäftigten.
Wie geht es dann weiter? Ich schlage vor, dass von jener Hälfte der Stimmrechte, die nicht von Arbeitnehmern, sondern von Aktionären gehalten werden, der Anteil jedes einzelnen Aktionärs begrenzt wird. Man kann das auch von der Größe des Unternehmens abhängig machen. In einem kleinen Unternehmen, in dem die Eigentümerin selbst arbeitet, könnte sie 90 Prozent der Stimmrechte auf der Aktionärsseite halten. Wenn das Unternehmen jedoch wächst und immer mehr Menschen beschäftigt, würde ihr maximaler Anteil zunehmend begrenzt, bis auf 5 Prozent oder 10 Prozent. Der Gedanke dahinter ist dieser: Es ist verständlich, dass jemand, der ein Unternehmen aufgebaut und das Anfangskapital beigesteuert hat, anfangs mehr Kontrolle über dieses Unternehmen haben sollte. Aber sobald ein Unternehmen größer wird und von den Schultern vieler hundert Menschen getragen wird, muss auch die Macht des Unternehmens geteilt werden. In meinen Augen ist es verrückt zu denken, eine Einzelne sollte für immer die ganze Macht behalten, nur weil sie mit dreißig Jahren eine gute Idee oder großes Glück hatte. Gerade in unseren sehr hoch gebildeten Gesellschaften gibt es Millionen von Menschen, die kompetent zur Entscheidungsfindung beitragen können – und sollten.
Wir brauchen also Institutionen für mehr Mitbestimmung und Machtteilung in Unternehmen. Und wir sollten dies mit Konzepten zur Demokratisierung des Betriebseigentums kombinieren. Das ließe sich beispielsweise durch Lohnempfängerfonds kombinieren, wie sie im Meidner-Plan vorgesehen waren, den die schwedischen Gewerkschaften in den 1970er Jahren entwickelt haben. Alle diese Vorschläge sehe ich als komplementär an, sie sollten gemeinsam verfolgt werden. Das Gleiche gilt für Maßnahmen zur Dekommodifizierung und progressiven Besteuerung, Grundeinkommen und Arbeitsplatzgarantie. Sie alle tragen Bausteine zum demokratischen Sozialismus bei, wie er mir vorschwebt, ich denke, wir sollten das eine nicht gegen das andere ausspielen.
Aber wer wären die Akteure, die einen solchen politischen Wandel herbeiführen könnten? Glauben Sie, dass politische Ideen und Policy Papers ausreichen, um die Dinge zu verändern?
Nein, nein, natürlich nicht. Wir brauchen kollektive Organisationen, durch die wir Bürgerinnen und Bürger für egalitäre Politik mobilisieren können. Ideen spielen dabei durchaus eine wichtige Rolle, aber man sollte ihre Bedeutung zugleich auch nicht überhöhen. Heute brauchen wir vor allem ambitioniertere programmatische Vorstöße von sozialistischen, sozialdemokratischen, kommunistischen oder Arbeiterparteien, sowie neue Formen der Organisierung. Linke Parteien und Gewerkschaften waren natürlich die zentralen Kräfte hinter der von mir beschriebenen Bewegung für mehr Gleichheit im vergangenen Jahrhundert. Aber etwa seit den 1980er oder 1990er Jahren haben viele dieser Parteien ihre egalitären Ambitionen völlig aufgegeben. Das Ende des kommunistischen Modells hat sicherlich dazu beigetragen, dass man plötzlich wie magisch an die Kraft der sich selbst regulierenden Märkte glaubte. Zwischen uns und dieser neoliberalen Periode stehen heute die Finanzkrise von 2008, die COVID- und jetzt die Ukraine-Krise.
Aber in gewisser Weise sind wir dennoch noch immer nicht aus dem neoliberalen Gefängnis herausgekommen. Jetzt müssen wir intellektuell und politisch rekonstruieren, wie unsere Vorstellung von einer Alternative zum Kapitalismus aussieht. Für mich ist klar, dass wir dazu auf den großen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts aufbauen und ihre egalitäre Bewegung weiterführen müssen. (Lacht) Es gibt noch viel zu tun!
Thomas Piketty ist einer der bekanntesten Ungleichheitsforscher der Welt und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Paris School of Economics. In der World Inequality Database machen er und sein Team einer breiten Öffentlichkeit Daten zur globalen Ungleichheit zugänglich.