29. September 2023
Lange Zeit haben multinationale Energiekonzerne in der kolumbianischen Guajira-Wüste Ressourcen abgebaut, ohne die indigene Bevölkerung an den Gewinnen zu beteiligen. Eine neue Initiative von Präsident Gustavo Petro soll das nun ändern.
Gustavo Petro spricht auf einer Demonstration zur Unterstützung der Sozialreformen der kolumbianischen Regierung in Bogota, Kolumbien, am 7. Juni 2023.
IMAGO / ZUMA WireKolumbiens Präsident Gustavo Petro hat kürzlich einen einmonatigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Notstand in der Region La Guajira ausgerufen. Damit will Petro, der eine Woche lang die Region bereiste, bürokratische Abläufe beschleunigen, die Umsetzung von unmittelbaren Notstandsmaßnahmen sicherstellen sowie neue Gesetze verabschieden, die dringend benötigte Investitionen in Bildung, Gesundheit, Tourismus und Wasserversorgung in der Region vorsehen.
La Guajira ist eine riesige Wüstenregion im äußersten Nordosten Kolumbiens. Sie ist eine der wichtigsten Energiequellen des Landes und beheimatet eine milliardenschwere Kohlebergbauindustrie – sowie einen erstklassigen Standort für neue Windparks. In La Guajira befindet sich auch das größte Indigenen-Reservat des Landes, das Wayúu-Reservat.
Viel zu lange haben kolumbianische Regierungen den Weg für heimische sowie multinationale Energie-Großkonzerne bereitet, die in der Region Ressourcen abbauen, ohne auch nur einen Teil der Erträge an die Wayúu weiterzugeben. Die neue Initiative des Präsidenten soll das nun ändern. So werden vor allem Mittel für die Entwicklung erneuerbarer Energien bereitgestellt. Die daraus erzielten Erträge sollen gerechter umverteilt werden, auch an die indigene Bevölkerung vor Ort.
Die Wayúu-Communities, die ein Fünftel der indigenen Bevölkerung des Landes ausmachen, sind in der Wüste verstreut. Sie leben in kleinen Siedlungen, den sogenannten Rancherias, in und mit unterschiedlichen Familien und Clans. Die Wayúu gehören zu den am stärksten marginalisierten Gemeinschaften in Kolumbien und haben keinen Zugang zu den meisten grundlegenden Versorgungsdiensten. Etwa ein Drittel der Wayúu-Bevölkerung lebt in Armut (ein Viertel in extremer Armut); mehr als jedes vierte Wayúu-Kind unter fünf Jahren leidet an Unterernährung. Jede Woche stirbt in La Guajira ein Kleinkind.
La Guajira ist der trockenste Teil Kolumbiens. Die Regenzeit dauert nur von September bis Oktober und reicht kaum aus, um den lebenswichtigen Mais anzubauen – und noch weniger, um den Trinkwasserbedarf der Menschen vor Ort zu decken. Abgesehen von rudimentären Regenauffangvorrichtungen sind Brunnen die einzige Wasserquelle für die Gemeinden tief im Herzen der Wüste La Guajiras. In vielen Gemeinden sind die Brunnen im Grunde nur Löcher im Boden, einige befinden sich unter ausgetrockneten Flussbetten. Probleme mit Wasserknappheit und Versalzung sind ein tägliches Übel. Die Menschen müssen das Wasser oft über große Entfernungen zu ihren Häusern transportieren; das einzige motorisierte Transportmittel in der Wüste sind Motorräder.
Wasser ist das kostbarste Gut in La Guajira; und das knappste. Wenn das Wasser in der Region zur Neige geht, versorgen private Wasseraufbereitungsanlagen in den Städten am Rande der Wüste die benachbarten Wayúu-Gemeinden. Dieses aufbereitete Wasser ist teuer, und nicht alle Gemeinden können es sich leisten, Wasser zu kaufen oder für den Transport zu bezahlen. Die Lastwagen, die das kostbare Gut von den Städten zu den Communities entlang der Autobahn transportieren, die sich vom südlichen Teil La Guajiras bis zur Küste im Norden erstreckt, können jedoch nicht tief in die Wüstengebiete hineinfahren, da es dort keine entsprechenden Straßen gibt. So müssen mehrere Dörfer auf sich allein gestellt überleben.
»Im Rahmen des ›Pakts für eine faire Energiewende‹ will Präsident Petro zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte dem Wasserbadarf der Menschen Vorrang vor dem der Landwirtschaft und des Bergbaus einräumen.«
Der Mangel an sauberem Trinkwasser aus unterirdischen Quellen könnte angesichts des Temperaturanstiegs und des Klimawandels in Zukunft zu einer schwer(er)en humanitären Krise führen und ganze Communities von ihrem angestammten Land vertreiben (Wassermangel ist bereits seit langem ein Hauptgrund für die Abwanderung in urbane Zentren). Mit Projekten zur Schaffung beziehungsweise Erhaltung der Wasserversorgung für die indigenen Gemeinschaften in der Region im Rahmen des sogenannten »Pakts für eine faire Energiewende« will Präsident Petro jetzt zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte dem Wasserbadarf der Menschen Vorrang vor dem der Landwirtschaft und des Bergbaus einräumen.
Seit der Eroberung Lateinamerikas durch Spanien haben Europäer und andere internationale Akteure ein Vermögen mit dem Abbau von Edelmetallen und Mineralien in La Guajira gemacht, während die indigenen Communities vor Ort weiterhin in Armut lebten. Diese lange Geschichte des Rohstoffabbaus hat zu einer extrem ungleichen Entwicklung in der Region geführt, in der zwei völlig unterschiedliche Welten nebeneinander existieren. In La Guajira hat eine einzige Mine, El Cerrejón, multinationalen Konzernen jahrzehntelang Milliarden Dollar an Erträgen aus dem Abbau und Export von Kohle eingebracht. Gleichzeitig mussten die Einheimischen mit dem Minimum an Ressourcen auskommen, die sie der Wüste abringen konnten.
Abgesehen von ein paar Almosen profitiert die lokale Community nur wenig von der Cerrejón-Mine – immerhin einem der größten Kohletagebaue der Welt, der von einem der weltweit größten Rohstoffunternehmen betrieben wird. Ursprünglich gehörte die Cerrejón-Mine mehrheitlich dem Ölkonzern ExxonMobil, der seine Anteile im Jahr 2002 allerdings für 600 Millionen Dollar an Glencore verkaufte. Mit dem Abbau von Kohle in Cerrejón wurde 1984 begonnen; damals wurde eine Million Tonnen Kohle verschifft. Aktuell werden jährlich 32 Millionen Tonnen exportiert.
Cerrejón beschäftigt 3.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, allerdings fast niemanden aus der lokalen Wayúu-Community. Das Unternehmen verfügt über eine große Flotte von Bodentransportern, darunter 250 riesige Lastwagen, von denen viele jeweils 350 Tonnen Kohle transportieren können. Es hat auch einen firmeneigenen Privatflughafen.
Hinzu kommt ein Firmen-Zug mit mehr als 100 Waggons, der die Kohle gut 150 Kilometer von der Cerrejón-Mine nach Puerto Bolivar, einem privaten, umzäunten und bewachten Hafen an der Nordküste, transportiert. Von dort wird die Kohle nach Europa (Hauptabnehmer ist Deutschland), Asien und die USA verschifft.
»Die Wüste La Guajira gilt als der potenziell beste Standort für Windenergie in ganz Lateinamerika.«
Die Cerrejón-Mine ist der größte Landbesitzer in La Guajira; riesige Parzellen befinden sich im gesamten Wayúu-Gebiet. Für den Bau der Mine, der Hafenanlagen und der Straßen- sowie Eisenbahnverbindungen wurden Hunderte von Wayúu-Familien von ihrem Land vertrieben. Die vorherigen Regierungen Kolumbiens hatten diesen Landraub zugunsten der Konzerne stets abgenickt und legalisiert.
Um die Kohleminen zu bauen und zu betreiben, wurden mehr als 50 Gewässer, darunter der mächtige Ranchería-Fluss, entweder durch Dämme von ihrem natürlichen Lauf abgeleitet, für die alleinige Nutzung durch die Kohleunternehmen in Beschlag genommen oder durch Verschmutzung zerstört. Der Diebstahl und die Zerstörung dieser Wasserquellen durch die Cerrejón-Kohlemine hat die Wayúu-Gemeinden in La Guajira direkt in die Armut gestürzt und das Leben dort überaus prekär gemacht. Das gilt besonders für Kleinkinder, die die höchste Sterblichkeitsrate des Landes aufweisen.
Durch den Bergbau wurden nicht nur das Land und das Wasser der Menschen gestohlen, sondern den Wayúu-Gemeinden auch einen Großteil ihrer Sicht auf den für sie so wichtigen Sternenhimmel geraubt. Der Nachthimmel in der Wüste La Guajira ist normalerweise voller Sterne – außer im Nordwesten, wo die grellen Lichter aus Puerto Bolivar, der Hafenstadt des Bergbauunternehmens, ganze Sternbilder unsichtbar machen. Auch der Nordpolarstern – für die indigenen Communities einst ein wichtiger Orientierungspunkt in der dunklen Wüste – wurde durch diese künstliche Lichtquelle »ersetzt«.
Die Eisenbahnlinien für die Kohleversorgung durchschneiden die Wüste und unterbrechen damit die Jagd- sowie Zugbewegungen der Tiere. Nach langen Protesten erhielt die Wayúu-Community erst kürzlich eine Entschädigung vom Kohlekonzern für Ziegen, Pferde und auch Menschen, die von den fast lautlosen Zügen oder den riesigen Lastwagen des Unternehmens überfahren und getötet wurden. Die Beschwerden der Gemeinden gehen jedoch noch deutlich weiter.
Im Juni 2020 rief die Wayúu-Community den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Umwelt auf, die Cerrejón-Mine auf Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen zu überprüfen. Im September 2020 forderten mehrere unabhängige Menschenrechtsexperten der UN dann die Einstellung aller Bergbauarbeiten und begründeten dies mit schwerwiegenden Umweltschäden und negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und andere Rechte der indigenen Völker, die in dem Gebiet leben. Die kolumbianischen Behörden haben seitdem jedoch nichts unternommen.
Seit Jahrhunderten haben die lokalen indigenen Gemeinschaften wenig oder gar kein Mitspracherecht in Angelegenheiten, die ihren Lebensunterhalt und ihr Überleben betreffen. Seit die Regierung im Jahr 1976 die erste Lizenz für Cerejón erteilt hatte, verhandeln die jeweiligen Unternehmen alle rechtlichen Angelegenheiten direkt mit der kolumbianischen Regierung, ohne dass die Wayúu etwas von den Gesprächen erfahren oder gar davon profitieren könnten. Diese Situation hat außerdem zu weit verbreiteter Korruption sowie Konflikten innerhalb der Gemeinschaften geführt.
Der nun angestrebte Umstieg Kolumbiens auf erneuerbare Energien ist eine Chance, mit der langen Geschichte der Kohleförderung, Ausbeutung und Korruption in der Region zu brechen. Die Wüste La Guajira gilt als der potenziell beste Standort für Windenergie in ganz Lateinamerika. Die Windgeschwindigkeit beträgt konstant neun Meter pro Sekunde in einer Höhe von 80 Metern und hat somit das Potenzial, 18 Gigawatt Strom zu erzeugen (der komplette Rest des Landes kann 30 Gigawatt liefern). Das kann die Region zu einem Hotspot für die »Grüne Energieindustrie« machen. Allerdings drohen die Gewinne erneut an den Menschen vor Ort vorbeigeleitet zu werden. Der Profit aus Ökostrom, der in den vergangenen Jahren bereits im Indigenenreservat La Guajira erzeugt wurde, ist jedenfalls noch nicht zu den lokalen Communities »durchgesickert«.
»Die indigenen Gruppen haben ein Mitspracherecht und müssen einen Anteil an den finanziellen Vorteilen der Energieerzeugung in ihrer Wüste erhalten.«
Heute sind über 96 Prozent Kolumbiens an das Stromnetz angeschlossen, doch in den ländlichen Regionen von La Guajira, wo die meisten Windkraftanlagen stehen oder demnächst stehen sollen, sind es weniger als 5 Prozent. Zwar sind Windturbinen deutlich weniger umweltschädlich als traditionelle Energiequellen, doch sind bereits zahlreiche Vögel und Fledermäuse in den Windrädern verendet. Energieprojekte europäischer und amerikanischer Konzerne haben somit das Ökosystem der Region in Mitleidenschaft gezogen. Diese Unternehmen sind in der Regel nicht bereit, ihren erwirtschafteten Reichtum zu teilen, lokale Arbeiterinnen und Arbeiter einzustellen oder auch nur mit den indigenen Gemeinschaften vor Ort zu sprechen. Aus diesen Gründen haben die Wayúu in den vergangenen Jahren in Protestaktionen immer wieder Turbinen von Windenergieunternehmen angegriffen und lahmgelegt.
Um hier Abhilfe zu schaffen, hat Präsident Petro nun seinen »Pakt für eine faire Energiewende« ins Leben gerufen, der eine Abkehr von Kohle und anderen Bodenschätzen hin zu erneuerbaren Energien vorsieht, die auch den lokalen Gemeinschaften zugutekommen soll. Der Pakt ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der Regierung, zwölf privaten Energieunternehmen und den Vertreterinnen und Vertretern von über 200 Wayúu-Gemeinschaften. Es sollen knapp 100 neue Projekte für erneuerbare Energien geschaffen werden, darunter 53 Wind- und elf Solarenergieparks. Außerdem werden rund 90 Kilometer neue Kabel verlegt, um die Energie in der gesamten Region La Guajira zu verteilen und viele Gebiete erstmals ans Stromnetz zu bringen.
Auch will die Regierung den örtlichen Gemeinden Solarzellen und Batterien zur Verfügung stellen. Im Rahmen des Paktes von Präsident Petro werden alle Lizenzen, die an Unternehmen vergeben werden, von den Wayúu-Gemeinden geprüft. Die indigenen Gruppen haben ein Mitspracherecht und müssen einen Anteil an den finanziellen Vorteilen der Energieerzeugung in ihrer Wüste erhalten.
Die Förderung erneuerbarer Energien durch die Regierung sowie die Verpflichtung, die Wasserversorgung der Region vorrangig für den menschlichen Verbrauch zu nutzen, zielen beide darauf ab, die Schäden des Kohleabbaus zu verringern. Wenn dieser Pakt von Präsident Petro erfolgreich ist, würde historisches Unrecht korrigiert und die indigenen Communities hätten endlich die Möglichkeit, ebenfalls vom Reichtum ihres eigenen Landes zu profitieren.
Kurt Hollander ist Autor und Fotograf aus New York City. Von 1983 bis 1991 war er Redakteur beim Kunst- und Kulturmagazin The Portable Lower East Side. Er lebt derzeit in Cali, Kolumbien.