04. Dezember 2024
Der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol hat gestern das Kriegsrecht verhängt und wenige Stunden später wieder aufgehoben. Diese Verzweiflungstat eines zutiefst unbeliebten rechten Staatschefs hat die Opposition gegen ihn nur gestärkt.
Der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol kündigt in einer Fernsehansprache die Aufhebung des Kriegsrechts an, 4. Dezember 2024.
Die plötzliche Verhängung des Kriegsrechts durch einen unpopulären Präsidenten am späten Dienstagabend lenkte die Aufmerksamkeit im In- und Ausland auf die südkoreanische Politik.
In den letzten zweieinhalb Jahren hat die pro-demokratische Opposition Koreas die »Diktatur der Staatsanwaltschaft« von Präsident Yoon Suk-yeol angeprangert. Der Begriff beschreibt den Einsatz der Staatsanwaltschaft, um gegen liberale und fortschrittliche Politikerinnen und Politiker, Medien und Gewerkschaften vorzugehen, begleitet von einer Wiederbelebung der antikommunistischen Rhetorik, die mit früheren Diktaturen verbunden war.
So erklärte Yoon in seiner Rede zum Tag der Befreiung im August 2023, dass »die Kräfte des kommunistischen Totalitarismus sich immer als Demokratieaktivisten, Menschenrechtsverfechter oder fortschrittliche Aktivisten getarnt haben, während sie verachtenswerte und unethische Taktiken und falsche Propaganda betrieben«. Diese Art von Verleumdung ließ viele befürchten, dass Yoons Regime zu einem Rollback der Demokratie führen würde; für andere klangen Yoons Tiraden einfach wie das müde Mantra eines Konservativen der alten Schule, der routinemäßig die Sprache der Diktaturzeit nachplappert.
Im September dieses Jahres wurde die Öffentlichkeit dann durch eine Pressemitteilung eines Abgeordneten der Demokratischen Partei, Kim Min-seok, darauf aufmerksam gemacht, dass Yoon etwas plant. Kim wies darauf hin, dass Yoon viele seiner Schulkameraden und engen Vertrauten in prominenten Positionen in der staatlichen Sicherheitsverwaltung und beim Militär berufen hatte. Er besetzte das Ministerium für öffentliche Sicherheit, das Verteidigungsministerium und das Kommando für Spionageabwehr mit seinen Kumpanen. Kim warnte, dass Yoon wahrscheinlich eine Situation herbeiführen wolle, in der er unter dem Vorwand einer von »pro-nordkoreanischen« Kräften geschaffenen Situation der öffentlichen Sicherheit leicht das Kriegsrecht ausrufen könne.
Für viele Menschen klang diese Art von Vorahnung schrill. Doch am frühen Mittwoch erklärte sogar die zutiefst konservative koreanische Zeitung Choson Ilbo, dass »Kim Min-seok Recht hatte«. Am Dienstagabend erklärte sogar der Vorsitzende der regierenden konservativen People Power Party, Han Dong-hoon, dass Yoon unrechtmäßig gehandelt habe.
Die rasche Bestätigung von Kims Warnung durch die Choson und die zügige Aufhebung des Kriegsrechts durch die Nationalversammlung zeigten schnell, dass Yoons Schritt die Verzweiflungstat eines unpopulären Präsidenten war, der um sein Überleben kämpft, und mit der nur wenige gerechnet hatten.
Beinahe die gesamte Amtszeit von Yoon war von anhaltenden Skandalen und Intrigen gekennzeichnet. Seine Regierung war unfähig im Umgang mit der Itaewon-Katastrophe von 2022, bei der 159 Menschen starben und weitere 196 verletzt wurden. Außerdem behinderte er die Untersuchung des Todes des Marinegefreiten Chae Su-geun während eines Hochwassereinsatzes im Jahr 2023. Yoons Reaktion auf diese beiden Vorfälle hat innerhalb der Öffentlichkeit für Empörung gesorgt. Das Gleiche gilt für seinen Einsatz der Strafverfolgung, um die Medien einzuschüchtern, gegen seine Opposition vorzugehen und die Arbeit der Gewerkschaften durch Schadensersatzforderungen und Strafanzeigen einzuschränken.
Die Ehefrau von Yoon, Kim Keon-hee, zog schnell die Aufmerksamkeit auf sich, weil sie sich der Bestechung, der Einflussnahme, des akademischen und beruflichen Betrugs und der Manipulation von Aktienkursen schuldig gemacht hatte.
Nachdem aufgedeckt wurde, dass Kim, Yoon und ihr geistlichen Berater Myung Tae-kyun Umfragewerte und die Auswahl der Kandidaten der Partei im vergangenen September manipuliert haben, wurde die Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon immer lauter.
»Was auch immer in den kommenden Tagen geschehen wird, sicher ist, dass Yoons dreistündiger Putsch eine neue, turbulente Phase eingeleitet hat, die die koreanische Politik in Zukunft verändern dürfte.«
Beobachter argumentierten, Myung spiele die gleiche Rasputin-ähnliche Rolle wie Choi Soon-sil, ein geistlicher Berater der abgesetzten Präsidentin Park Geun-hye. Myung wurde am Dienstag wegen Verstoßes gegen die Gesetze zur Finanzierung politischer Aktivitäten angeklagt.
Ironischerweise war Yoon genau der Staatsanwalt, der Park, Choi und ihre Komplizen für ihre Verbrechen und Bedrohungen der Demokratie vor Gericht stellte. Park hatte ihre Verwaltung mit Persönlichkeiten aus der Verwaltung ihres Vaters, des Diktators Park Chung-hee, besetzt. Yoons Machtspiel scheint auf den ersten Blick wie etwas, das Park getan haben könnte.
Die Regierung Park wurde durch die Kerzenlichtrevolution 2016/17 zu Fall gebracht. Es ist plausibel, dass Yoon vor dem Hintergrund dieser Ereignisse entschied, den Widerstand zu direkt durch Maßnahmen des nationalen Notstands zu unterbinden.
Aber es gab noch weitere Faktoren, die zu Yoons abrupter Entscheidung geführt haben könnten. In den letzten Wochen haben die Proteste gegen Yoon zugenommen. Zehntausende Menschen nahmen am Samstag an einem Protest bei Kerzenlicht teil und forderten die Amtsenthebung Yoons.
Dieser Veranstaltung gingen in den letzten Wochen eine Reihe von Erklärungen von Universitätsstudierenden und Lehrenden aus dem ganzen Land voraus, darunter von Yoons Alma Mater, der renommierten Seoul National University. Eine ähnliche Erklärung wurde von nordamerikanischen Akademikerinnen und Akademikern abgegeben. Auch andere prominente Gruppen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Schriftstellervereinigungen gaben Erklärungen ab.
Zum jetzigen Zeitpunkt können wir jedoch nur spekulieren, was Yoon zu dieser bizarren Entscheidung veranlasst hat, zum ersten Mal seit über 45 Jahren den Kriegszustand auszurufen und Spezialkräfte in die Nationalversammlung zu schicken.
Nach Stand der Dinge ist es den Parlamentariern gelungen, in die Versammlung zurückzukehren, sich vor den Truppen zu verbarrikadieren und die Entscheidung von Yoon nach nur drei Stunden der nationalen Krise aufzuheben. Um 5 Uhr morgens verkündete Yoon live im Fernsehen, dass er den Rückzug der Armee anordnen und eine Kabinettssitzung abhalten werde, um die Verhängung des Kriegsrechts rückgängig zu machen.
Bei Morgendämmerung am Mittwoch ist damit zu rechnen, dass es in Korea zu einem der größten Proteste seit der Kerzenlicht-Revolution kommen wird. Der Koreanische Gewerkschaftsbund hat zu einem Generalstreik aufgerufen, und die Oppositionsparteien haben angekündigt, dass sie einen Antrag auf Amtsenthebung vorbereiten.
Was auch immer in den kommenden Tagen geschehen wird, sicher ist, dass Yoons dreistündiger Putsch eine neue, turbulente Phase eingeleitet hat, die die koreanische Politik in Zukunft verändern dürfte. Wie diese aussehen wird, ist eine Frage, die dringend Aufmerksamkeit verdient.
Jamie Doucette lehrt Humangeografie an der University of Manchester und ist Autor des Buches The Postdevelopmental State: Dilemmas of Economic Democratization in Contemporary South Korea.
Jinsoo Lee ist Doktorand der Humangeographie an der Universität Manchester. Er forscht zu Fragen der Umweltungerechtigkeit und zeitgenössischer Geopolitik in Südkorea.