06. Dezember 2024
Michel Houellebecq schreibt fatalistische Romane über den Zerfall unserer Gesellschaft. Doch aus seiner Desillusionierung mit dem Kapitalismus findet der härteste Kritiker des westlichen Liberalismus keinen Ausweg.
»Houellebecqs visionäre Klarheit ist schwer von seiner reaktionären politischen Haltung zu trennen, auch wenn es einige seiner linken Fans immer wieder verzweifelt versucht haben.«
2010 war ein gutes Jahr für Michel Houellebecq. Während in Nordafrika angesichts der hohen Lebensmittelpreise die Proteste des Arabischen Frühlings ausbrachen und sich bis nach Südeuropa ausbreiteten, gewann sein Roman Karte und Gebiet den Prix Goncourt, den renommiertesten französischen Literaturpreis. Seine Satire auf die zeitgenössische Kunstwelt führte in den folgenden Monaten die Bestsellerlisten des Landes an. Das Buch verkaufte sich hunderttausendfach. Endlich erhielt Houellebecq die öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung, auf die er so lange gewartet hatte. Später fasste er das Jahr in seiner gewohnt lakonischen Art zusammen: »2010 gewann ich den Prix Goncourt, Frankreich schnitt bei der Fußball-WM nicht besonders gut ab und Apple brachte sein iPad auf den Markt.«
Doch schon Anfang 2011 wurde Houellebecqs literarischer Erfolg von einem ungewöhnlichen Konkurrenten überflügelt – einem 20-seitigen Pamphlet eines 93-jährigen Résistance-Veteranen namens Stéphane Hessel. Sein Essay Empört euch! schlug einen zutiefst un-houellebecqschen Ton an. So rief er die Menschen im Westen auf, sich gegen die Eliten aufzulehnen. Hessel betonte, gewisse Dinge in der Welt seien »inakzeptabel«, wobei Gleichgültigkeit »das Schlimmste« sei. Denn durch diese beraube man sich selbst der grundlegenden menschlichen »Fähigkeit zur Empörung«.
Der Coup verlief gnadenlos und schnell: Hessels Manifest verkaufte sich in den ersten Monaten satte 500.000 Mal. Kurz später übernahm die Indignados-Bewegung, die bereits während des Sommers des Arabischen Frühlings auf den Plätzen europäischer Städte sichtbar wurde, die Forderung des Buchtitels. Sowohl die Indignados als auch der Arabische Frühling waren Spätfolgen der Finanzkrise von 2008. Diese hatte Währungskrisen in Nordafrika sowie Staatsschuldenkrisen im Süden Europas ausgelöst.
Einige Beobachterinnen und Beobachter erkannten in Houellebecqs »Niederlage« gegen Hessel eine Symbolik: Der empörte Großvater übertrumpft den mittelalten Zyniker. »Zu einer Zeit, in der dieses unheilvolle Orakel [Houellebecq] mit seinem neurasthenischen, museal anmutenden Frankreichbild auf dem Vormarsch ist, führt dieses überraschende Büchlein [...] die Verkaufscharts an«, so der Kommentar einer französischen Journalistin. Zu Beginn der populistischen Ära schien der literarische Prototyp der 1990er- und 2000er-Jahre – Dekaden, die von relativer politischer Zurückhaltung geprägt waren – politisch und kommerziell am Ende zu sein.
Die neuen Empfindungen flossen langsam in Houellebecqs eigenes Œuvre ein. In den Folgejahren gab es weniger Bücher über unehrliche Künstler oder verschlossene Eremiten und mehr über wütende Aktivisten und Bauern. 2015 veröffentlichte Houellebecq seinen Roman Unterwerfung – seine Darstellung einer islamistischen Machtübernahme in Frankreich, inklusiver polygamer Eheschließungen und Sittenwächtern, die auf den Pariser Boulevards patrouillieren. In dem Roman wird auf eine Welt zurückgeblickt, in der Wahlen »so uninteressant waren, wie man es sich nur denken konnte« und die Mittelmäßigkeit der politischen Angebote »wirklich frappierend« war.
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Anton Jäger ist Ideenhistoriker und Autor des Buches »Hyperpolitik: Extreme Politisierung ohne politische Folgen« (Suhrkamp 2023).