07. Dezember 2024
Die Bundesregierung will mit Resolutionen gegen Antisemitismus vorgehen. Doch anstatt jüdisches Leben zu schützen, kriminalisiert sie vor allem die Palästina-Solidarität. Die Anwältin Nadija Samour meint: Deutschland ignoriert das Völkerrecht.
Demonstrierende in Berlin prangern Deutschlands einseitige Israel-Politik an, 2. November 2024.
Die Besatzung des Westjordanlands und die Abriegelung des Gazastreifens durch Israel stehen seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober vergangenen Jahres zwar vermehrt im Fokus der Öffentlichkeit, doch die internationale Solidaritätsbewegung mit den Palästinenserinnen und Palästinensern ist keinesfalls neu. Auch nicht neu sind die Bestrebungen seitens der Bundesregierung, diese Bewegung einzuschüchtern und ihre politischen Forderungen rechtlich zu unterbinden. Doch im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit Israels Vergeltungsschlag wurden die staatlichen Repressionen weiter verschärft.
Bereits 2019 hat der Bundestag eine Resolution verabschiedet, die die höchst umstrittene Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zum Standard erhob und die sogenannte BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) kriminalisierte. Immer wieder werden palästinasolidarische Demonstrationen in Deutschlands Hauptstadt aufgelöst oder unterbunden.
Wie ist die gezielte Unterdrückung einer politischen Bewegung rechtlich einzuordnen? Und was sagt das internationale Völkerrecht zu diesem Vorgehen? Genau darüber hat JACOBIN mit der deutsch-palästinensischen Rechtsantwältin Nadija Samour vom European Legal Support Center (ELSC) gesprochen.
Die sogenannte Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, vor allem ging es dabei um zwei Aspekte: Förderrechtliche Maßnahmen und die IHRA-Definition für Antisemitismus. Sie bemängeln einen ganz anderen Punkt, nämlich dass sie die BDS-Resolution von 2019 bekräftigt. Warum?
Wir unterstützen und teilen die Kritik der Bürger- und Menschenrechtsorganisationen an der Antisemitismus-Resolution, weil sie einen Eingriff in die Grundrechte bedeutet und man die Staatsräson in Sphären der Gesellschaft einschreiben will, die eigentlich frei sein sollten, wie beispielsweise die Künste und die Wissenschaft. Wir müssen aber einen weiteren Punkt unterstreichen, nämlich die Bekräftigung des Ansinnens, die BDS-Kampagne weiter zu kriminalisieren. Damit verstößt Deutschland nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern auch gegen das Völkerrecht.
Die Resolution ist erst mal nur eine Meinungsäußerung des Parlaments und kein Gesetz. Sie ist nicht rechtlich bindend. Kann sie dann überhaupt gegen das Grundgesetz oder das Völkerrecht verstoßen?
Das stimmt, sie ist nicht bindend und das ist das Problem. Es gibt gerade ein Verfahren gegen die BDS-Resolution und da haben zwei Gerichte in Berlin sich darüber gestritten, ob das überhaupt justiziabel ist. Weil sie sagen, es ist nicht bindend. Gleichzeitig hat sie aber Auswirkungen, sie wird faktisch angewendet. Nicht nur für öffentliche Organisationen, sondern auch in der Privatwirtschaft haben wir beim European Legal Support Center (ELSC) einige Fälle registriert, wo Arbeitgeber ihre Arbeitnehmerinnen disziplinieren, mit dem Hinweis darauf, dass BDS verboten sei. Das stimmt aber natürlich nicht.
»Sowohl für die UN-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten ist das, was der IGH sagt, verbindlich.«
Was steht in der BDS-Resolution tatsächlich drin?
Der Bundestag hat beschlossen, dass die BDS-Kampagne antisemitisch sei, weil sie sich gegen Israel richte. Außerdem hat er dazu aufgerufen, keine öffentlichen Mittel und Räume für alles bereitzustellen, was mit BDS in Verbindung steht. BDS soll also nicht gefördert werden. Es gab dann auch vermehrt Ausladungen von Personen oder den Entzug von Fördergeldern mit Bezug auf die BDS-Resolution und Raumkündigungen von Veranstaltungen. Ob sie tatsächlich mit BDS etwas zu tun hatten oder nur irgendetwas mit Palästina – das spielte zum Teil gar keine Rolle. Und da steckten gar nicht immer böse Intentionen dahinter. Vielerorts herrschte einfach eine große Unsicherheit darüber, welche Rechtsnatur die Resolution hat und ob man sich daranhalten muss.
Sie sind mehrfach gegen Entscheidungen in Bezug auf die BDS-Resolution gerichtlich vorgegangen. Was wurde dabei entschieden?
Eigentlich ist die Frage inzwischen gerichtlich geklärt. Dort, wo wir klagen konnten, etwa bei Kündigungen von Räumlichkeiten mit Bezug auf die Resolution, haben wir die allermeisten Fälle gewonnen, und zwar immer auch mit dem Argument, BDS ist nicht antisemitisch und der Staat darf nicht gegen Artikel 5 des Grundgesetzes verstoßen, indem er entscheidet, welche Meinung er fördert und welche nicht.
Diese Fälle haben wir nicht nur in Deutschland vor allen Instanzen gewonnen, sondern auch auf europäischer Ebene, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort gab es einen wichtigen rechtlichen Erfolg mit einem Fall aus Frankreich, und diese Rechtsprechung ist natürlich auch für Deutschland bindend. Zudem hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestages auch noch in einer Stellungnahme gesagt, dass diese Resolution, wenn sie ein Gesetz wäre, verfassungswidrig wäre. Aber all das scheint überhaupt nicht anzukommen in der Politik. Es wird weiter auf BDS eingedroschen.
Hier in Deutschland wird meist argumentiert, dass es bei Boykottaufrufen eine Parallele zu den Naziboykotten gegen jüdische Geschäfte gibt. Haben Sie Verständnis für dieses Argument und welche Rolle könnte das Argument auf der juristischen Ebene spielen?
Das ist absolute Propaganda, wenn das so behauptet wird. Was die Nazis damals gemacht haben, ist eine Pervertierung des Mittels des Boykotts, das normalerweise von Unterdrückten gegen Unterdrücker benutzt wird. Wenn dieses historische Beispiel immer wieder herangezogen wird, während alle anderen Boykottbeispiele in der Geschichte, wie zum Beispiel der Boykott gegen Apartheid-Südafrika, hinten runterfallen, dient das der gezielten Diffamierung gegen die Ziele der BDS-Kampagne. Rechtlich hat die Argumentation natürlich keinerlei Bedeutung.
Was sind die konkreten Ziele von BDS?
Die BDS Kampagne hat drei Ziele und bis diese erreicht werden, sollen israelische Institutionen, aber auch internationale Wirtschaftskonzerne, die von der Besatzung der palästinensischen Gebiete profitieren, boykottiert werden. Die drei Ziele sind: Das Ende der Besatzung des Westjordanlands, des Gazastreifens, Ostjerusalems und der Golanhöhen. Diese Besetzung ist inzwischen als illegal deklariert worden, auch vom Internationalen Gerichtshof. Das ist in jeglichen völkerrechtlichen Verträgen einfach der Standard: Die Besatzung muss beendet werden.
Die zweite Forderung ist das Ende von Apartheidgesetzen gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern mit israelischem Pass. Sie sind zwar Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, aber es gibt dutzende Gesetzgebungen, die sie systematisch diskriminieren. Wenn ich als israelisch-palästinensische Staatsbürgerin einen Menschen aus Ramallah heiraten würde, dürfte der Mensch nicht mit mir zusammenwohnen. Für einen jüdisch-israelischen Staatsbürger, der einen jüdischen Israeli aus einer illegalen Siedlung in der Westbank heiraten möchte, gilt diese Einschränkung nicht.
Die dritte Forderung ist, dass palästinensische Flüchtlinge, die während der Nakba vertrieben wurden, ihr Rückkehrrecht geltend machen können.
»Im Grunde genommen braucht es eine kritische Öffentlichkeit, eine kritische Masse, die die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und die Justiz unter Druck setzt, das Völkerrecht konsequent umzusetzen.«
Dieser Punkt ist besonders umstritten. Meist wird folgende Kritik herangeführt: Würden jetzt wirklich alle Palästinenserinnen und Palästinenser aus der Diaspora in ihre Heimat zurückkehren, wäre nicht genug Platz im Land für die israelische Bevölkerung – es sei nicht praktikabel.
Eigentlich ist das nichts Radikales. Das Recht auf Rückkehr für Flüchtlinge ist völkerrechtlich reguliert, genau wie die zwei anderen Forderungen. Diese Prinzipien gelten in anderen Kontexten auch. Deshalb stimmt auch der Vorwurf nicht, man würde Israel hier mit zweierlei Maß behandeln.
BDS sagt jetzt: Solange diese Dinge nicht passieren, sollen keine Waren aus Israel gekauft werden, sollen keine Wirtschaftsprojekte aus Israel realisiert werden, es soll desinvestiert und Israel soll sanktioniert werden. Und genau das sagt das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes von Juli auch.
In dem IGH-Gutachten geht es aber nur um die illegal besetzten Gebiete, nicht um Israel, ist das nicht ein wichtiger Unterschied zwischen der BDS-Position und der des IGH?
Ja, das ist eine Einschränkung, die dem geschuldet ist, dass die UN-Generalversammlung ihre Frage an den IGH so formuliert hat – also eben mit Bezug auf die von Israel 1967 besetzten palästinensischen Gebiete. Hier herrscht Konsens, dass es sich um besetzte Gebiete handelt, während aber die Gebiete, auf denen heute das Staatsgebiet Israel existiert, nicht als völkerrechtlich besetzt gelten, also gemäß der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention. Das kann man politisch aber anders sehen. Und die BDS-Kampagne setzt eben dieser politische Fragmentierung der palästinensischen Bevölkerung etwas entgegen, und bezieht sich auf alle Palästinenserinnen und Palästinenser, ob unter Besatzung, unter Apartheid oder im Exil.
Der IGH sagte jetzt, die Besatzung ist als solche illegal, weil sie schon so lange anhält. Besatzungen als solche sind nicht illegal, aber eine Besatzungsmacht muss darauf hinarbeiten, die Besatzung zu beenden. Israel hat aber das Gegenteil getan und die Besatzung weiter manifestiert, etwa durch den Bau immer neuer Siedlungen in der Westbank. Es wurde also auf eine Annexion hingearbeitet, die systematische Einverleibung von Gebieten.
Bedeutet die Entscheidung des IGH, dass alle Staaten die wirtschaftlichen Beziehungen in den besetzten Gebieten aufgeben müssen?
Exakt das steht drin. Sowohl für die UN-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten ist das, was der IGH sagt, verbindlich. Es wird explizit dazu aufgefordert, sich an keinerlei Aktivitäten zu beteiligen, die die Situation der Besatzung fördern. Das bedeutet de facto: israelische und internationale Unternehmen, die in den besetzten Gebieten wirtschaften, sollten boykottiert werden.
Auf die Frage eines Journalisten, wie die Bundesregierung die Rechtssprechung des IGH in Bezug auf Waren aus den besetzten Gebieten umsetzen will, sagte Olaf Scholz im Sommer: »Eine von mir geführte Regierung wird keinen Boykott von Gütern, Dienstleistungen und Waren aus Israel unterstützen. Ehrlicherweise finde ich solche Forderungen auch eklig.«
Es ist wirklich bedenklich, wenn die eigene Regierung das Völkerrecht missachtet und sagt, man finde das Völkerrecht eklig. Dann soll doch die Bundesregierung einen Gegenvorschlag machen, wie sie gedenkt, die Besatzung zu beenden oder nicht mehr zu befördern.
»Wir bitten sie darum, wir sagen ihnen das und wir besprechen das in jedem unserer Treffen.« So oder so ähnlich antwortet die Bundesregierung für gewöhnlich auf solche Einwände.
Das ist ein irreführendes Narrativ. Die Bundesregierung rückt mit diesem Kommentar nicht von ihrer Linie ab. Dabei müsste Deutschland als Mitglied der UN diese Forderungen des IGH halten. Gerne wird argumentiert, es sei keine bindende Entscheidung, und das stimmt auch, aber sie ist maßgeblich bestimmend für die Auslegung von internationalen Abkommen. Im Artikel 25 des Grundgesetzes ist geregelt, dass das, was im Völkerrecht reguliert wird, für uns hier Gesetz ist, es ist also bindend für alle staatlichen Gewalten. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit hat in Deutschland Verfassungsrang.
»Das Völkerrecht ist ein Mechanismus, auf den sich alle Staaten geeinigt haben, um Krieg und übermäßiges Leid zu vermeiden. Dass es hier schon wieder zu scheitern droht, ist in einer Welt, in der der Faschismus auf dem Vormarsch ist, sehr besorgniserregend.«
Was passiert, wenn sich einfach Deutschland nicht daran hält?
Tja, das ist so eine Sache mit dem Völkerrecht, wer setzt es um? Es gibt natürlich keine eigene Instanz dafür. Wir werden mit dem European Legal Strategy Center auch überlegen, bestimmte Fälle vor Gericht zu bringen und dort das IGH-Gutachten als Argument anzubringen. Aber im Grunde genommen braucht es eine kritische Öffentlichkeit, eine kritische Masse, die die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und die Justiz unter Druck setzt, das Völkerrecht konsequent umzusetzen.
Besteht aus Ihrer Sicht ein direkter Zusammenhang zwischen den völkerrechtlichen Verantwortungen, die Deutschland offenbar nicht wahrnehmen will, und gezielten Versuchen, Kritik an Israel und der deutschen Israelpolitik einzuschränken? So könnte man die jüngste Antisemitismus-Resolution zumindest interpretieren.
Ja, ich sehe diese Verbindung sehr stark. Man kann sich natürlich fragen, warum macht Deutschland das? Warum ist das für Deutschland so wichtig? Ich glaube, dass darüber so ein bisschen eine deutsche nationale Identität geformt werden soll, die auch förderlich ist für Militarismus. Ich glaube, dass Deutschland wieder mit den Großmächten um Einfluss ringen will in der Welt. In diesem Kontext verstehe ich das.
Dass das Völkerrecht zu einem politischen Instrument gemacht wird, sieht man auch an der Reaktion Deutschlands zu den Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant. Man kann am Völkerrecht wirklich viel kritisieren, zum Beispiel, dass es eine bestimmte koloniale Weltordnung aufrechterhält. Und die Bundesregierung gießt mit ihrer Reaktion natürlich Öl in dieses Feuer, wenn sie, als absolute Fans des Völkerrechts, erst einmal überlegen muss, ob sie die Haftbefehle denn überhaupt vollstrecken würde.
Das Völkerrecht ist aber gleichzeitig auch ein Mechanismus, auf den sich alle Staaten geeinigt haben, um Krieg und übermäßiges Leid zu vermeiden. Dass es hier schon wieder zu scheitern droht, ist in einer Welt, in der der Faschismus auf dem Vormarsch ist, sehr besorgniserregend. Es fällt damit ein bestimmtes Kommunikations- und Entscheidungsmittel weg, und die Macht des Stärkeren setzt sich wieder durch.
Nadija Samour ist Partner-Anwältin für das European Legal Support Center und Strafverteidigerin mit Schwerpunkt auf politische Strafverfahren und internationalem Strafrecht. Zuvor hat sie an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Irish Centre for Human Rights studiert und war am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag tätig.