06. Dezember 2024
Der Niedergang der organisierten Religion war eine Befreiung, aber er hat auch eine Leere hinterlassen, die bis heute nicht gefüllt ist.
»Vom Manifestieren als Weg zu Reichtum und Erfolg bis zu fundamentalistischen Hassgemeinschaften der Chatforen ist unsere Welt voll mit falschen Antworten auf reale Bedürfnisse.«
»Der Mann, der Gott exekutierte« heißt eine Kurzgeschichte von Eduardo Galeano. Darin erzählt er vom Volkskommissar Anatoli Lunacharsky, der 1918, inmitten der Moskauer Revolutionswirren, in einer Gerichtsverhandlung gegen Gott den Vorsitz hatte.
»Auf dem Stuhl des Angeklagten lag eine Bibel. Der Anklage zufolge hatte Gott im Laufe der Geschichte zahllose Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Der mit dem Fall betraute Verteidiger argumentierte, dass Gott nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und deshalb verhandlungsunfähig sei. Doch das Gericht verurteilte ihn dennoch zum Tode. Im Morgengrauen dieses Tages wurden fünf Maschinengewehrsalven in den Himmel abgefeuert.«
Beim Wort Gott greifen viele Linke auch heute noch instinktiv zur Kalaschnikow. Der Reflex ist nachvollziehbar. Organisierte Religion war in der Geschichte oft zuallererst Ideologie, Legitimierung von Herrschaft, reaktionäre Indoktrinierung, patriarchale Unterwerfung. Sie war ein symbolischer Kleister für gesellschaftliche Widersprüche, eine Verdichtung kultureller Vorurteile, eine Verlängerung der Gesellschaftshierarchie ins Gewissen des Einzelnen. Als Marx schrieb, »die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«, war er Teil eines immensen aufklärerischen Emanzipationsprojekts.
Doch so notwendig und befreiend die Religionskritik in klerikalen Herrschaftszeiten war, so albern wäre es heute, sich die Kostüme des 19. Jahrhunderts überzuwerfen oder mit dem großen Gestus von Kommissar Lunacharsky Gewehrsalven in einen leeren Himmel zu schießen. Für die Legitimierung von politischer oder ökonomischer Herrschaft wird die Religion nicht mehr gebraucht. Der gegenwärtige Kapitalismus steht und fällt nicht mit dem Glauben an religiöse Dogmen, sondern mit dem Benzinpreis, der Bürokratie, dem Geschäftsbericht und den Arbeitslosenzahlen, anders gesagt: mit dem stummen Zwang der Verhältnisse; dem Lauf der Dinge, wie sie eben sind.
Und auch die Kirchen gehen – zumindest hierzulande – denselben Weg wie alle Masseninstitutionen der organisierten Moderne. Ganz wie bei Parteimitgliedschaften, gewerkschaftlichen Organisierungsgraden, dauerhaften Ehen, Kegelvereinen und Nachbarschaftstreffs gibt es auch in der Entwicklung der Kirchenmitgliedschaften nur eine Richtung: abwärts. In Deutschland sind heute noch 24 Prozent der Menschen auf dem Papier Katholiken, 22 Prozent Protestanten und 4 Prozent Muslime. Der ADAC hat mehr Mitglieder als jede Religionsgemeinschaft. Noch Anfang der 1990er Jahre waren über 70 Prozent Angehörige einer der großen christlichen Kirchen, heute gehört knapp die Hälfte der Bevölkerung keiner Konfession an.
Diese Zahlen übertünchen dabei eine noch viel tiefergehende Erosion: Denn selbst von den Kirchenmitgliedern bezeichnet sich laut einer Studie die Hälfte als »nicht-religiös«. Und nur 5 Prozent der Deutschen praktizieren ihren Glauben insofern, als sie mindestens einmal im Monat ein Gotteshaus aufsuchen. Anders gesagt sind 94 Prozent der Katholiken und 98 Prozent der Protestanten im Wesentlichen Karteileichen. Es gibt in Deutschland mehr Menschen, die Golf spielen, als Kirchgänger.
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Ole Rauch ist Herausgeber von JACOBIN und Verleger bei Brumaire.
Linus Westheuser ist Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und Contributing Editor bei JACOBIN.