26. November 2024
In seinem neuen Buch »Moralische Ambition« möchte uns der Historiker Rutger Bregman erklären, wie man mit dem richtigen Mindset die Welt verändert. Sein Plädoyer für einen moralischen Individualismus entpuppt sich jedoch als narzisstische Sehnsucht nach großen Helden.
Rutger Bregman richtet seinen Appell zur Verbesserung der Welt vor allem an Menschen, wie ihn selbst, nämlich erfolgreiche Akademiker.
Rutger Bregman mangelt es nicht an medialer Aufmerksamkeit. Seine Bücher stehen weltweit in den Buchhandlungen und er hat den Status eines intellektuellen Superstars. Sein neues Buch, Moralische Ambition: Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden, und etwas schafft, das wirklich zählt, landete direkt nach seinem Erscheinen in den Niederlanden sofort an der Spitze der Bestsellerliste. Das Buch wurde zeitgleich mit der The School for Moral Ambition, einer NGO, vorgestellt.
Es ist Bregmans bisher ehrgeizigstes Projekt nach seinen früheren Arbeiten zum Thema Fortschritt, bedingungsloses Grundeinkommen und seinem erfolgreichen Buch Im Grunde Gut. Jetzt will er nicht mehr nur schreiben, sondern auch aktiv werden. Seine Schule für moralische Ambition soll nichts weniger als eine globale Bewegung werden.
In seinem neuesten Buch popularisiert Bregman Ideen aus dem englischsprachigen Raum. Dort sind die Ideen des effektiven Altruismus in den letzten Jahren sehr populär geworden. Der englische Philosoph Benjamin Todd, einer seiner Vordenker, hat bereits 2016 in seinem Buch 80.000 Hours ähnlich argumentiert wie Bregman.
Der wiederum protestiert gegen die »Verschwendung von Talenten«. Viele gut bezahlte und erfolgreiche Menschen entscheiden sich für eine sichere Karriere, anstatt Veränderungen anzustreben und »einen Unterschied zu machen«, so Bregman. Für wahren Erfolg seien andere Maßstäbe ausschlaggebend, etwa gute Taten und deren soziale Wirkung. Woran es seiner Meinung nach mangelt, ist »moralische Ambition«.
Bregman verdeutlicht dies anhand einer Einteilung in vier Kategorien. Menschen, die weder ehrgeizig noch idealistisch sind, stecken in »Bullshit-Jobs« fest. Wer Ambitionen, aber keine Ideale hat, wird in der Regel Berater, Bankerin, Marketingmanager oder Anwältin. Dann gibt es eine Gruppe von Menschen, die in einem Bereich tätig sind, der nichts zustande bringt, nämlich dem »woken Aktivismus«. Und schließlich gibt es das, was Bregman als die perfekte Kombination erachtet: Menschen, die sowohl Ehrgeiz als auch Ideale haben.
Es ist sofort klar, dass Bregman Menschen wie sich selbst adressiert: Akademikerinnen und Akademiker mit ausreichend materieller Sicherheit, um unternehmerisch tätig zu werden. Kurz gesagt, eine Gruppe, die über ein gewisses Maß an sozialem und kulturellem Kapital und vor allem auch ein Vermögen verfügt. Auf der Website seiner NGO heißt es: »Sie haben einen tadellosen Lebenslauf und einen hervorragenden Job. Sie sind das, was man im Volksmund ›erfolgreich‹ nennt.« Als Mitglied der Elite wendet sich Bregman an die Elite. Was den moralischen Ehrgeiz angeht, so brauchen wir uns über die Prioritäten keine Illusionen zu machen: erst der Erfolg, dann die Moral. Oder, um es mit den Worten von Bregman zu sagen: »Man nehme den Ehrgeiz eines Karrieristen und füge eine Prise Idealismus hinzu.«
Es ist also kein Zufall, dass Bregman diejenigen am härtesten kritisiert, die zwar Ideale, aber angeblich keinen Ehrgeiz haben. Diese Figuren, die Bregman vor allem auf der Linken verortet, bezeichnet er als »edlen Verlierer«: Menschen, die »gute Absichten« haben, aber nichts erreichen. Linke Idealisten – »woke-Aktivisten«, Veganerinnen, Klimaaktivisten und radikale Systemkritikerinnen, die alle in einen Topf geworfen werden – überschätzen, so Bregman, die Bedeutung des Bewusstseins und scheitern daran, Ergebnisse zu liefern. Bregman zitiert einstimmend Margaret Thatcher: »Niemand würde sich an den barmherzigen Samariter erinnern, wenn er nur gute Absichten gehabt hätte; er hatte auch Geld.«
»Bregman befürwortet die neoliberale Ökonomisierung der Moral. Wer keinen Erfolg hat, ist nun nicht nur sozial, sondern auch moralisch ein Verlierer.«
Das ist alles nichts Neues, sondern eine breit bekannte Diagnose, die auch von vielen Linken geteilt wird. Um wirklich etwas zu verändern, braucht eine linke Bewegung eine Organisation, einen Plan, und ja, auch Geld. Bregman hingegen nutzt diese Kritik als Anlass, um völlig unkritisch eine konventionelle Vorstellung von Erfolg zu übernehmen und sogar zu verherrlichen. Er befürwortet die neoliberale Ökonomisierung der Moral. Wer keinen Erfolg hat, ist nun nicht nur sozial, sondern auch moralisch ein Verlierer.
Für Bregman beginnt die Veränderung der Welt bei einem selbst. Moralische Ambition ist daher in erster Linie ein Selbsthilfebuch. Es betrachtet die Welt aus einer durch und durch individualistischen Perspektive. Letztlich geht es darum, das eigene »Talent« zu entwickeln und entsprechend der eigenen »Ideale« zu handeln. Aber ohne weiteren Kontext ist nicht klar, was »das Gute«, das getan werden soll, eigentlich ist. Und aus dieser Selbsthilfe-Perspektive werden die wichtigen sozialen und politischen Bewegungen, die Bregman erwähnt – der Abolitionismus in den USA, der organisierte Widerstand gegen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden in den Niederlanden –, zu Anekdoten über bewundernswerte Persönlichkeiten.
Menschen mit einer systemkritischen Perspektive werden karikiert. Bregman beschreibt sie als privilegierte Typen, die, sobald es um ihre eigene Verantwortung geht, empört sind und darauf pochen, dass wir zuerst über »das System« reden müssen. Systemkritik existiert für ihn nur als Deckmantel, um sich vor der eigenen Verantwortung zu drücken. Dabei hat niemand behauptet, dass sich die Veränderung des Systems und die eigene Veränderung gegenseitig ausschließen.
Bregman lehnt jede Systemkritik ab und zieht den moralischen Individualismus der Politik vor. Doch es wäre ein Fehler, den Individualismus, den Bregman hier propagiert, als »unpolitisch« zu betrachten. Während Im Grunde Gut noch ein leidenschaftliches Plädoyer für demokratische Teilhabe enthielt, wird der Mensch in Moralische Ambition als »Herdentier« beschrieben. In der Demokratie würde zwar das Volk regieren, erklärt Bregman, aber in Wirklichkeit sei das Volk passiv. Wirkliche Veränderungen werden nur durch »unnachgiebigen Minderheiten« erwirkt.
»Bregman geht es um die Geschichten, die man irgendwann mal seinen Enkeln erzählen möchte. Er wünscht sich vor also allem eine moralische Heldengeschichte, mit einem Helden, der gewinnt.«
Bewegungen wie Occupy und Black Lives Matter, die eine breite Unterstützung genossen, werden damit abgetan, dass ein verändertes Bewusstsein und gesellschaftliche Veränderung eben nicht dasselbe seien. Bregman glaubt, dass wir stattdessen andere erfolgreiche Unternehmen brauchen: etwa ein Tesla für Wohltätigkeitsorganisationen oder ein Hogwarts für Weltverbesserer. Gleichzeitig gelten rechtsextreme Tech-CEOs wie Elon Musk und Peter Thiel als Vorbilder. Das große Paradoxon an Bregmans Plädoyer ist, dass er trotz aller Kritik an Idealistinnen und Idealisten, die das Bewusstsein dem Handeln vorziehen, letztlich seinen eigenen moralischen Anspruch auf die Ebene des Gewissens verlagert. Es geht Bregman am Ende nämlich um eine andere Denkweise, wie er in seinem Buch schreibt.
Am Anfang von Moralische Ambition steht die Warnung, dass dieses Buch keinen Trost spendet, sondern Unbehagen bereitet. Tatsächlich macht Bregman es uns allzu leicht. Das von ihm skizzierte Ideal ist das Ideal seiner eigenen privilegierten Blase. Das narzisstisches Ethos dieses Buches besagt, dass es ganz besondere Personen gibt, die »einen Unterschied machen«. Bregman geht es um die Geschichten, die man irgendwann mal seinen Enkeln erzählen möchte. Er wünscht sich also vor allem eine moralische Heldengeschichte, mit einem Helden, der gewinnt. Aber gegen wen eigentlich?
Helmer Stoel ist Redakteur bei Jacobin NL.