15. Januar 2024
Der Bestseller »Triggerpunkte« zeigt auf: Der Schein eines polarisierten Deutschlands trügt. Warum das nicht automatisch eine gute Nachricht ist und was die Studie für sozialistische Politik bedeutet, erklärt Co-Autor Linus Westheuser im Gespräch.
Eine Mistgabel sticht in eine Deutschland-Flagge auf dem Bauern-Protest in Berlin am 15. Januar 2024.
Die sich häufenden Krisen des Kapitalismus in den letzten Jahren wären eigentlich wie gemacht für sozialistische Politik. Doch medial wie politisch wird jedes Thema eingebettet in denselben identitätspolitischen Kulturkampf zwischen der urbanen »woken« Mittelschicht und den konservativen »Wutbürgern«. Davon profitiert seit Jahren in erster Linie das rechte Lager. Die regierende Mitte hingegen ist gelähmt, und die politische Linke schafft es nicht, eine ernstzunehmende Alternative darzustellen.
Mit ihrer umfassenden soziologischen Studie Triggerpunkte liefern die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser eine neue Analyse dieser verfahrenen Konfliktlandschaft. Entgegen der herkömmlichen Behauptung einer Polarisierung zwischen links und rechts diagnostizieren sie einen breiten gesellschaftlichen Konsens und eine Tendenz zur Mitte in den meisten relevanten Fragen. Das falsche Bild einer gespaltenen Gesellschaft, so die These, entsteht vielmehr durch die politische und mediale Überbelichtung einiger sehr spezifischer Debatten.
Linus Westheuser sprach mit Niklas Kullick für JACOBIN über Mobilisierung und Klasse, politischen Kampf und die Lehren der Studie für ein sozialistisches Projekt.
Euer Buch ist der Versuch einer »180-Grad-Vermessung« politischer Konflikte, wie es im Verlagsprogramm heißt. Worauf zielt Ihr mit dieser Herangehensweise?
Unser Ziel ist es, eine Karte der deutschen Konfliktlandschaft anzubieten. Also aufzuschlüsseln, worum in unserer Gesellschaft gerungen wird und wie. Die meisten Bücher zu Konflikten der Gegenwart reiten auf einer These: »Echokammern schüren den Hass«, oder »die Wokeness zerstört unser Gemeinwesen« oder sowas. Um diese These herum gruppiert man dann passende Befunde.
Wir sind bewusst offener herangegangen. Wir haben einige gängige Annahmen der Gegenwartsdiagnose hergenommen: zum Beispiel die, dass die Gesellschaft sich zunehmend polarisiert, oder die, dass an der Frage des Genderns ein konservatives und ein liberales Lager aufeinanderprallen. Und dann haben wir Daten ausgewertet, die zeigen können, ob das denn wirklich so ist. Über weite Strecken ist unser Buch deshalb eher beschreibend und überlässt die Bewertung den Leserinnen und Lesern. Im Idealfall funktioniert das Buch wie eine Art Aussichtsplattform, von der aus man die Meinungslandschaft in ihren größeren Zügen überblicken kann.
»Oben-Unten-Konflikte sind zwar allgegenwärtig und die wachsende Ungleichheit wird von vielen kritisiert, aber die ›utopische Energie‹ hinter dem Projekt der Umverteilung und des Wohlfahrtsstaates ist sehr schwach geworden.«
Wir sind außerdem eher an Widersprüchlichkeiten interessiert als an Pauschalisierung. So sehen wir zum Beispiel recht deutlich, dass es keine zunehmende Polarisierung der Meinungen über die Zeit gegeben hat. Unter den Deutschen herrscht ein großer Drang zur Mitte vor. Und dennoch glaubt eine große Mehrheit, dass außer ihnen selbst alle immer polarisierter werden. Warum ist das so?
Ebenso nimmt ein sehr großer Teil der Bevölkerung einen starken Konflikt zwischen Arm und Reich wahr und kritisiert das Davonziehen der Oberschicht. Aber nur wenige ziehen daraus den eigentlich zu erwartenden politischen Schluss, dass es ein offensives linkes Gegensteuern durch Umverteilung braucht. Seltsam. Solche Befunde interessieren uns, gerade weil sie nicht klar in eine Richtung weisen.
Ihr ordnet die Konflikte der Gegenwart in vier »Arenen« ein: Verteilung, Migration, Diversität und Klimaschutz. Ihr sprecht von »vier Arenen der Ungleichheit«. Kannst Du erläutern, was es damit auf sich hat?
Die Metapher der Arenen soll ausdrücken, dass politische Großkonflikte in der Öffentlichkeit, sozusagen vor und mit dem Publikum, ausgefochten werden. Der Begriff der Arenen der Ungleichheit zeigt unsere soziologische Brille an, mit der wir auf Konflikte schauen. Für alle vier großen Konfliktfelder, die Du nennst, fragen wir, welche Formen der Ungleichheit sie befeuern. Unsere Annahme ist, dass sich die wichtigsten gesellschaftlichen Konflikte entlang ungleicher Verhältnisse entfalten.
Am deutlichsten ist das wahrscheinlich bei der verteilungspolitischen »Oben-Unten-Arena«, in der um Haben und Nicht-Haben gerungen wird. Diese Arena speist sich aus einem Grundwiderspruch des demokratischen Kapitalismus, zwischen dem Gleichheitsanspruch der Demokratie und einem Wirtschaftssystem, das strukturell Ungleichheit hervorbringt. Diesen Widerspruch zu skandalisieren und zu bearbeiten, ist natürlich der Kern der sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition. Durch demokratisch kanalisierte Klassen- und Arbeitskämpfe im Betrieb und an den Wahlurnen wurden in der Vergangenheit Formen der Umverteilung, Absicherung und Daseinsvorsorge errungen, die die kapitalistische Ungleichheit korrigieren. Der Oben-Unten-Konflikt wurde so befriedet, ohne abgeschafft zu werden.
Heute sehen wir, dass Oben-Unten-Konflikte zwar allgegenwärtig sind und die wachsende Ungleichheit von vielen kritisiert wird, dass aber die »utopische Energie« hinter dem Projekt der Umverteilung und des Wohlfahrtsstaates sehr schwach geworden ist. Wir befinden uns in einer historischen Ebbe-Phase der Oben-Unten-Konflikte. Das hat sicherlich mit der neoliberalen Offensive und der politischen Demobilisierung der Lohnabhängigen in den letzten Jahrzehnten zu tun.
Zugleich wird die politische Landschaft von drei weiteren »post-industriellen« Konflikten geprägt, die jeweils eigene Ungleichheitsdynamiken haben.
Ja. Das ist zum einen der Konflikt um »Innen-Außen-Ungleichheiten« – also die Frage, wer Zugang zum nationalen Territorium erhält, aber auch wer als Mitglied der imaginierten Gemeinschaft der Nation verstanden wird und damit an bestimmten Formen der Solidarität, der Rechte und des Wohlstands teilhaben darf. Natürlich ist auch das eine äußerst konsequenzenreiche Ungleichheitsfrage, eine Frage von Leiden und Gedeihen, teils gar von Leben und Tod.
Hinzu treten Fragen der ungleichen Anerkennung, die gesellschaftliche Gruppen genießen, etwa sexuell, geschlechtlich oder ethnisch dominante und marginalisierte Gruppen – wir nennen sie »Wir-Sie-Ungleichheiten«. Zuletzt geraten in klimapolitischen Konflikten zunehmend auch »Heute-Morgen-Ungleichheiten« in den Blick. Das sind Fragen der ungleichen Verursachung von Umweltschäden und der ungleichen Betroffenheit vom Klimawandel wie auch von der ökologischen Transformation der Gesellschaft.
Ein Bauarbeiter auf dem Land zum Beispiel pendelt vielleicht mit einem Diesel zur Arbeit, trägt aber trotzdem nur einen Bruchteil der CO2-Belastung bei, die ein Manager verursacht, wenn er regelmäßig von Berlin nach Stuttgart fliegt. Vor zunehmender Hitze kann der Manager sich aber ins klimatisierte Büro flüchten, während der Arbeiter draußen auf der Baustelle steht. Zudem sind beide womöglich sehr unterschiedlich von den Lasten betroffen, die der ökologische Umbau mit sich bringt, dem Umbau der Industrie, der Transport- und Ernährungssysteme und so weiter. Auch das wird heute zu einer äußerst brenzligen Ungleichheitsfrage.
»Würde die gesamte Gesellschaft nur aus Grünen und AfD-Wählern bestehen, dann könnten wir tatsächlich von einer durchschlagenden Polarisierung sprechen. Aber real ist das natürlich nicht der Fall.«
Sieht man nicht durch alle vier Arenen hindurch eine Polarisierung zwischen links und rechts?
Auf dem Papier stimmt das. Man könnte schon sagen, dass in allen vier Arenen letztlich darum gerungen wird, wer »im Dunkeln steht und wer im Licht«, um es mit Bertolt Brecht zu sagen, oder wer auf dem Sonnendeck liegt und wer in der Kombüse steht. Und in allen Arenen ist der linke Impuls natürlich, Ungleichheiten zu kritisieren und abzubauen, der rechte, sie zu verteidigen, zu verleugnen oder sie als unausweichlich darzustellen.
Wenn man aber statt der politischen Ideengeschichte auf die realen Meinungen in der Bevölkerung schaut, dann hat man ein viel unübersichtlicheres Bild. Es gibt eine riesige Zahl von Mischtypen, von Unentschiedenen oder Mittigen, die in keine der beiden Schubladen passen. Hinzu kommen jene, die einfach nur wollen, dass man sie mit Politik in Ruhe lässt. Die gesellschaftliche »Mitte«, wenn man das so nennen will, ist recht stark entideologisiert, die Konfliktlandschaft viel zerklüfteter als es oft den Anschein hat. Konflikte finden aber auch da statt, wo es keine zwei Großlager gibt, die im ideologischen Kampf clashen. Für linke Politik ist das wichtig, weil es einem klarmacht, dass die Mehrheit weder bereits auf der eigenen Seite steht, noch hoffnungslos verloren ist.
Es war uns auch deshalb wichtig, die vier Arenen je einzeln zu betrachten, weil heute viele Kommentatoren dazu tendieren, Migrations-, Identitäts- und Klimafragen allesamt im großen Topf des »Kulturkampfs« zu verrühren. Ich denke, wir können in unserem Buch zeigen, dass das eine Vereinfachung ist, die man, wenn dann nur sehr vorsichtig gebrauchen sollte. Alle vier genannten Konflikte folgen unterschiedlichen Logiken, sie berühren unterschiedliche Gruppen, die unterschiedliche Ansprüche stellen. Und es sind oft nicht dieselben Leute, die migrations- und klimaskeptisch sind, oder umverteilungsaffin und diversitätsoffen. Die Kopplung der Konflikte ist eher lose – zumindest zurzeit.
Dennoch haben manche politischen Akteure ein Interesse daran, den Eindruck zunehmender Polarisierung zu wecken. In dem Zusammenhang sprecht Ihr von »Polarisierungsunternehmerinnen«, wie beispielsweise Giorgia Meloni in Italien, Marine Le Pen in Frankreich oder auch der AfD in Deutschland. Wie gehen sie vor?
Polarisierungsunternehmerinnen und -unternehmern ist daran gelegen, die Behauptung einer gepaltenen Gesellschaft Wahrheit werden zu lassen, weil das ihr eigenes ideologisches Projekt vergrößert und ihnen politisches Kapital verschafft. Wenn man den Eindruck erwecken kann, es gäbe bloß eine hart arbeitende, fleischessende und normale – und deshalb automatisch konservative – Mehrheit und dann ein paar durchgeknallte »Woke«, zu denen man Linke und die urbanen Mittelklassen zählt, dann werden viele Menschen natürlich lieber normal bleiben wollen.
Der Soziologe Pierre Bourdieu nennt das »Klassifikationskämpfe«, also Kämpfe um die herrschenden Vorstellungen von der Ordnung der Gesellschaft und ihrer Spaltungslinien. Auch die linke Gegenüberstellung des oberen »1 Prozent« und der restlichen »99 Prozent« ist so eine Behauptung über die Spaltung der Gesellschaft, die man versucht, politische Realität werden zu lassen. Wie wir uns die Gesellschaft vorstellen, ist selbst Gegenstand politischer Kämpfe.
Gerade in der Wissenschaft muss man bei solchen Behauptungen deshalb immer skeptisch sein. Unsere Studie zeigt, dass der rationale Kern der »Kulturkampf«-Erzählung der ist, dass zwischen Grünen- und AfD-Wählern tatsächlich sehr stark polarisierte Einstellungen in allen neuen Konflikten vorherrschen. Würde die gesamte Gesellschaft nur aus Grünen und AfD-Wählern bestehen, dann könnten wir tatsächlich von einer durchschlagenden Polarisierung sprechen. Aber real ist das natürlich nicht der Fall.
Ebenso wenig bestätigt sich das Klischee, außerhalb des Innenstadtrings begänne die Barbarei oder einfacher Gebildete und Arbeiter seien rechts. Beides sind stereotype Bilder gesellschaftlicher Spaltung, die empirisch unzutreffend sind, aber zuweilen aus politischer Motivation dennoch verbreitet werden.
»Migration wird von Arbeitern oft anders diskutiert als von Lehrerinnen und Rechtsanwälten. Es sind aber teils eher Unterschiede in der Geschliffenheit der Sprache als in der Substanz.«
Aber zeigt Ihr in dem Buch nicht, dass Klasse und Bildung sehr wohl Auswirkungen auf die Einstellung zu gesellschaftlichen Konflikten, etwa um Migration, haben?
Ja, durchaus. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen, auch wenn das die knackigen Talking Points über rechte Arbeiter und urbane Eliten kaputt macht. Man sieht zum Beispiel tatsächlich graduelle Unterschiede dahingehend, dass in der unteren Hälfte der gesellschaftlichen Hierarchie die Skepsis gegenüber Einwanderung größer ist als in der oberen. Das zeigt sich auch darin, dass Migration von Arbeiterinnen und Arbeitern oft anders diskutiert wird als von Lehrerinnen und Rechtsanwälten: etwa stärker durch die Brille einer Konkurrenz um knappe Ressourcen und Ansprüche. Für die Mittelschicht ist das Migrationsthema oft eher Anlass zur ethischen Positionierung: Man kann zeigen, dass man gelernt hat, mit Andersartigkeit umzugehen, dass man ein offenes Mindset hat.
Am Ende wird aber auch bei letzteren oft argumentiert, dass es Regeln und Begrenzungen braucht und dass man genau schauen sollte, wen »wir« gebrauchen können und wen nicht. Es sind also teils eher Unterschiede in der Geschliffenheit der Sprache als in der Substanz. Gerade in der Migrationsarena, die von allen sicherlich die polarisierteste ist, ist oft erstaunlich, wie ähnlich die Argumentationsgrundlage aller Seiten ist: Es sollen die richtigen kommen und sie sollen sich integrieren, da sind sich in Deutschland fast alle einig. Zwei Drittel der Bevölkerung stimmen etwa der – einigermaßen heftigen – Aussage zu, dass »nur die Migranten gleiche Rechte erhalten sollten, die sich anstrengen und integrieren«. Das spricht für eine durchaus klassenübergreifende »Herr im Haus«-Mentalität.
Zugleich sehen wir, dass gerade unter Arbeiterinnen und Arbeitern die Spannbreite der Einstellungen sehr groß ist. Es gibt hier eine Reihe verschiedener Klassenfraktionen, von demokratisch-solidarisch bis autoritär – und allem dazwischen. Die üblichste Haltung ist eine eher diffuse Mischung von Einzelmeinungen, die sich gar nicht zu einem kohärenten politischen Weltbild schließt.
Erstaunlich ist aber, dass es größere Klassenunterschiede in den drei Arenen der Migrations-, Identitäts- und Klimapolitik gibt, als in der verteilungspolitischen Arena der Oben-Unten-Konflikte, wo man sie vielleicht am ehesten vermuten würde.
Das hat mich auch ein Stück weit überrascht. Wir sehen durchaus einen gewissen Unterschied zwischen Arbeitgebern und Kleinunternehmern, die umverteilungsskeptischer sind, und der großen Mehrheit der Lohnabhängigen. Aber generell sind die Klassenunterschiede erstaunlich gering. Die, die von Umverteilung und Wohlfahrtsstaatsausbau profitieren würden, befürworten sie derzeit nicht in sehr viel stärkerem Maße.
Das hat wohl verschiedene Gründe. Zum einen gibt es die Tendenz, die eigene Position zu überschätzen, wenn man »unten« ist, und zu unterschätzen, wenn man »oben« ist. Viel wichtiger ist jedoch der tief sitzende Glaube an die Meritokratie. Das ist der Glaube, man müsse sich nur genug anstrengen, und dann würde man auch bekommen, was man verdient. Für viele Menschen, deren Job tatsächlich voller Anstrengungen ist, birgt das Meritokratieversprechen eine Quelle des Stolzes. Man hat sich etwas verdient durch all die Mühen, die eigenen Ansprüche sind also legitim. Im Umkehrschluss führt das aber oft dazu, dass man sich von denen abgrenzt, die vermeintlich »nur auf der Couch sitzen«.
Wir sehen es in der gegenwärtigen Bürgergeld-Debatte. Eigentlich ist es absolut im Interesse von Arbeitnehmern – und gerade von Geringverdienern – dass die De-facto-Lohnuntergrenze des Bürgergelds erhöht wird. Aber die moralisierte Abgrenzung nach unten ist oft ein stärkerer Impuls. Zumal dann, wenn auf der politischen Bühne niemand auf die gemeinsamen Interessen hinweist. Ironischerweise ist es oft die akademisch gebildete Mittelklasse, die skeptischer auf das Meritokratieversprechen blickt. Gerade Menschen in sozialen und kulturellen Berufen erfahren häufig in der Arbeit mit Klientinnen, Patienten oder Schülerinnen, wie die soziale Realität das Versprechen der Leistungsgesellschaft ad absurdum führt.
Und der Rest glaubt an die Meritokratie?
Nein, es wird durchaus auch viel kritisiert, dass sich die Oberen alles nehmen, ohne dafür etwas geleistet zu haben, etwa im Falle reicher Erben. Oder es wird infrage gestellt, was Leistung eigentlich bedeutet: »Wenn alleinerziehende Frauen ihre Kinder großziehen, ist das denn keine Leistung?« und so weiter. Aber die derzeit prominenteste Argumentation ist schon eine, die argwöhnisch darauf schaut, dass die Faulenzer ja nicht zu viel abbekommen.
Das ist ein Symptom dessen, was Klaus Dörre die »demobilisierte Klassengesellschaft« nennt. Die reale Klassenspaltung und ihre Auswirkungen werden ganz lebensweltlich und alltäglich erfahren, aber politisch nicht als Konflikt zwischen Oben und Unten gedeutet, sondern in eine Konkurrenz unter Lohnabhängigen umgeleitet – beziehungsweise in eine Konkurrenz zwischen etablierten Gruppen und Außenseitern, denen es vermeintlich zu gut geht. Diese Konkurrenz zu überwinden, war schon immer ein Kernanliegen linker Politik, aber sie ist es heute vielleicht mehr denn je.
Wie kann das gelingen? Muss die politische Linke vielleicht selbst zur Polarisierungsunternehmerin werden?
Ein Stück weit geht es sicherlich immer um die Gegnerbestimmung. Aber darüber hinaus muss man klarmachen, wie kollektives Handeln im Leben der Menschen tatsächlich etwas verbessert. Trotz aller Rückschläge war die »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«-Kampagne in Berlin ein gutes Beispiel, wie so etwas gelingen kann. Diese Kampagne hat angesetzt an einem starken Unrechtsbewusstsein: irgendwelche gesichtslosen Konzerne machen Kasse, während ein Großteil der Bevölkerung immer mehr vom ohnehin knappen Gehalt abzwacken muss, um die Miete zu bezahlen.
Das ist einfach so eine offensichtliche und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, dass damit viele Menschen zu mobilisieren sind, insbesondere wenn sowieso schon die ganze Stadt über die explodierenden Mieten redet. Und wenn es dann noch die Lobby der Vermieter, CDU und FDP zwingt, sich öffentlich als Vereinigungen zu outen, die gegen die Interessen der Mehrheit arbeiten, dann ist das natürlich politisch ideal. Aber es war auch wichtig, nicht die ideologische Positionierung in den Vordergrund zu stellen, sondern Alltagserfahrungen und Interessen.
»Die Linke bräuchte mehr von diesem populären und moralisierten Aus-der-Hüfte-schießen, das viele CDUler so gut beherrschen.«
Für mich war die größte Erkenntnis aus der Forschung für das Buch generell, dass linke Politik viel alltäglicher sein muss, viel organischer und handfester an die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen andocken sollte. Man muss die Punkte ausmachen, wo im Alltagsbewusstsein der Leute schon gewisse Ansprüche, Erwartungen, aber auch Formen des Unrechtsbewusstseins und der Empörung existieren, die in Richtung einer egalitären Gesellschaft weisen. Und diese muss man zu einem politischen Projekt zusammenbinden. Man kann sich etwa gut vorstellen, dass linke Kampagnen neben dem Wohnen auch in Bezug auf andere Lebensbereiche funktionieren könnten, in denen Oben-Unten-Konflikte konkret werden, etwa Gesundheit, Heizen, Transport, Sorge oder Ernährung.
Zugleich befinden wir uns momentan in einer Situation multipler Krisen. Das erzeugt bei vielen den Impuls, lieber zu fragen, wie wir noch möglichst viel sichern können, statt vorwärts zu denken und sich eine bessere Gesellschaft auszumalen. Deswegen muss linke Politik derzeit vor allem Sicherheit vermitteln. Etwa indem sie zeigt, dass wir eine stabilere und verlässlichere Versorgung sicherstellen können, wenn essenzielle Güter als soziale Rechte organisiert werden und dem krisenhaften, volatilen und unfairen Markt entzogen werden.
Man könnte das als eine Art Infrastruktur-Sozialismus bezeichnen.
Ja. Aber es ist vielleicht auch nicht so wichtig, wie man es nennt. Ich finde es durchaus wichtig, den Begriff des Sozialismus weiterzutragen, weil er klarmacht, in welcher langen Tradition unser gegenwärtiges Projekt steht. Aber das dient wohl vor allem der eigenen Orientierung. Denn wenn man ehrlich ist, ist das kein Wort, mit dem man derzeit die Massen hinterm Ofen hervorlockt.
Grundsätzlich gibt es in linken Kreisen die Tendenz, zu viel Zeit auf programmatische Debatten zu verwenden. Man diskutiert bei allem möglichen, was jetzt die korrekte ideologische Antwort wäre, auch wenn eigentlich niemand danach gefragt hat. Viele linke Diskussionen interessieren deshalb nur Eingeweihte.
Und wenn man sich die andere Seite anschaut, dann hat die AfD verstanden, dass sie erfolgreicher ist, wenn sie nicht diskutiert, wie der faschistische Führerstaat auszusehen hat, sondern einfach ein Bauchgefühl der Leute anspricht: »Jetzt kommen die Flüchtlinge und kriegen alles, und unsereins kriegt gar nichts.« Auch die CDU ist wahnsinnig gut in dieser Art von Politik. Programmatisch ist der Konservatismus ein ziemliches Durcheinander, will irgendwie gleichzeitig Autobahnen und heile Welt, hohe Profite und ehrliche Arbeit. Nichts davon passt zusammen. Aber sie haben griffige Formeln à la »Arbeit muss sicher wieder lohnen«, die an die Alltagsmoral andocken.
Das heißt natürlich nicht, dass Linke sich keine programmatischen Fragen mehr stellen sollten. Aber es bräuchte mehr von diesem populären und moralisierten Aus-der-Hüfte-schießen, das viele CDUler so gut beherrschen. Dazu müssen sich linke Analysen auch viel stärker fragen, wie die Leute tatsächlich denken, als wie sie denken sollten. Wir haben in unserem Buch einiges dazu zusammengetragen, aber das ist natürlich nur ein Beitrag, den man an vielen Stellen vertiefen muss.
Linus Westheuser ist Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und Contributing Editor bei JACOBIN.