06. Dezember 2024
Am 22. September 2024 ist der bedeutende marxistische Kulturtheoretiker Fredric Jameson verstorben. In diesem Essay, den er im Jahr zuvor verfasste, manövriert er durch die vielen Widersprüche des utopischen Denkens und Fühlens.
»Der Utopismus ist auf die aus gelebter Erfahrung erwachsende Überzeugung angewiesen, dass gesellschaftlicher Wandel und eine radikal andere Zukunft möglich sind.«
Ich möchte versuchen, die Debatte über die Utopie und ihren politischen Nutzen etwas zu erhellen. Die meisten Menschen würden wohl zustimmen, dass die Utopisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Wesentlichen progressiv waren, in dem Sinne, dass ihre Visionen oder Fantasien auf die Verbesserung der Lage der Menschheit abzielten. Mich interessiert aber der Moment, in dem diesen Utopien und ihrer begeisterten Anhängerschaft zugeschrieben wurde, zwangsläufig Unheil zu bringen. Später in der Geschichte wird dann argumentiert, revolutionärer Utopismus führe zu Gewalt und Diktatur und alle Utopien würden auf die eine oder andere Art auf Josef Stalin hinauslaufen – besser noch, Stalin wäre selbst ein Utopist gewesen, und zwar in größtem Ausmaß.
Das klingt bereits in Edmund Burkes Verurteilung der Französischen Revolution an. Er machte eines der genialsten konterrevolutionären Argumente überhaupt: Es sei Hybris, wenn Menschen die künstlichen Pläne der Vernunft an die Stelle des langsamen und natürlichen Wachstums der Tradition setzen, und eine Revolution sei an sich immer schon eine Katastrophe. Das alles wird während des Kalten Krieges wiederbelebt: Der Kommunismus wird mit der Utopie identifiziert, beide mit der Revolution, und alle zusammen mit dem Totalitarismus. (Manchmal schleicht sich dabei noch der Nazismus ein – aber nicht so sehr durch seine Identifikation als Utopie, sondern vielmehr durch die Gleichsetzung von Hitler und Stalin und die daraus resultierenden scholastischen Debatten darüber, wer im Wettstreit um die meisten Todesopfer der Sieger sei.)
Nach meinem Dafürhalten waren es die jüngeren Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg, die diese Implikation umkehrten und den Utopismus in einen Leitspruch und Schlachtruf verwandelten. Sie erblickten in der Utopie keine sich abzeichnende Dystopie und sie sahen den Utopismus auch nicht als eine Blüte von Hochmut und Sünde. Stattdessen nahmen sie die umgekehrte Überzeugung an, dass die Utopie das Gegenteil des Status quo ist. Vor dem bedrohlichen Hintergrund der Stagnation sowie der Macht der Institutionen und des Staates, die aus der Not und unter den Bedingungen des Krieges entstanden waren, assoziierten sie die Utopie mit dem Wandel an sich. Der statische Charakter, der den traditionellen utopischen Strukturen oft innezuwohnen schien, wurde ignoriert. Stattdessen wurde der frische Wind durch zerbrochene Fenster betont, den der Utopismus offenbar mit sich brachte. Das war der Geist der 1960er Jahre, die wie keine andere revolutionäre Periode die Utopie in ihrer neuen Form wiederbelebten.
Natürlich gibt es Theorien über diesen neuen und dynamischen Utopismus, allen voran das enzyklopädische Werk von Ernst Bloch. Es gibt andererseits auch beherzte Versuche, die älteren unheilvollen Diagnosen wieder hervorzuholen, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion. Mir scheint jedoch, dass diese gegensätzlichen politischen Bedeutungen der Utopie nicht in einer philosophischen Überzeugung begründet liegen, sondern sich eher der existenziellen (oder phänomenologischen) Erfahrung verdanken, nämlich dem Sinn für mögliche Zukünfte. Der Status quo möchte versichert werden, dass die Zukunft im Wesentlichen genauso aussehen wird wie die Gegenwart. Sein Leitspruch lautet daher »das Ende der Geschichte«, also das Ende der Utopie, das Ende von Zukunft und Veränderung.
Der Utopismus ist auf die aus gelebter Erfahrung erwachsende Überzeugung angewiesen, dass gesellschaftlicher Wandel und eine radikal andere Zukunft möglich sind. Dies ist eine Überzeugung, die nur durch die gesellschaftlichen Umstände und Bedingungen hervorgebracht werden kann. Sie wird erstickt durch politische Lähmung, das Aussterben politisch radikaler Parteien sowie den nationalen Souveränitätsverlust, der sich im Zuge der Globalisierung vollzieht. (Die EU, in der die Nationalstaaten auf Mitgliedsstaaten reduziert wurden, ist ein treffendes Beispiel für diesen Prozess.)
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Fredric Jameson war Professor für Literaturwissenschaft an der Duke University. Zu seinen zahlreichen Büchern zählen Das politische Unbewußte, Spätmarxismus und Mythen der Moderne.