20. Juli 2023
Entgegen der Hysterie der Rechten über »wokes Kapital« und der optimistischen Behauptungen der Wall Street haben ESG-Fonds bisher wenig dazu beigetragen, Investitionen in eine sozial verantwortungsvollere Richtung zu lenken. Um die Wirtschaft schnell grüner zu machen, sind offensive staatliche Maßnahmen erforderlich.
Nur sehr geringe Anteile und kleine Segmente des ESG-Sektors weichen nennenswert von gängigen Investitionspraktiken ab.
Der wirre Kreuzzug der US-amerikanischen Rechten gegen progressive Politik hat eine neue Wendung genommen: Neuerdings behaupten sie, selbst der Kapitalismus leide nun unter der »Krankheit der Wokeness«. Für die republikanische Partei, Fox News und selbsternannte Experten wie den Unternehmer und potenziellen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Vivek Ramaswamy sind »ESG-Fonds« (kurz für: Environment, Social und Governance) aktuell die größte Bedrohung für Kapitalismus und Demokratie. Elon Musk vermutet gar eine Verschwörung, die von »social justice warriors« angezettelt wurde, um der wunderbaren Welt der freien Marktwirtschaft (und dem Börsenkurs von Tesla) Schaden zuzufügen.
Im Gegensatz dazu behaupten die Befürworter des an Bedeutung gewinnenden Investitionsparadigmas, dass ESG-Fonds und ihre stetig wachsende Beliebtheit »sozial verantwortliches« Handeln von Unternehmen stärken und so die Geschäftswelt auf einen gerechteren und nachhaltigeren Weg führen würden. Das gelte insbesondere für Investitionen in erneuerbare Energien, die für die Abfederung der allerschlimmsten Auswirkungen des Klimawandels dringend notwendig sind und durch nachhaltige Investmentfonds generiert werden sollen.
Die Auseinandersetzungen um ESG-Fonds sind Teil des breiteren Kampfes, den vor allem die US-amerikanische Rechte gegen heraufbeschworene Feindbilder wie die Critical Race Theory führt. Begierig darauf, auch den neuesten Empörungstrend aufzugreifen, haben die Republikaner und ihre extrem-rechten Verbündeten eine massive politische Kampagne gegen die ESG-Branche gestartet. Diese entfaltete nun ihre Wirkung: Allein im vergangenen Jahr haben achtzehn US-Bundesstaaten Gesetzesvorhaben diskutiert oder umgesetzt, die es den Regierungen und den mit ihr verbundenen Finanzvehikeln verbieten, in ESG-Fonds zu investieren. Die Kapitalflüsse in den ESG-Sektor sind seitdem merklich zurückgegangen.
Doch was machen ESG-Fonds eigentlich? Haben sie tatsächlich das weitreichende Potential, das ihnen von Feinden wie Befürworterinnen attestiert wird? Ist an der Behauptung, dass ESG-Fonds nachhaltige und soziale Geschäftspraktiken hervorbringen und dadurch den Kapitalismus zerstören, etwas dran? Den jüngsten Ergebnissen unseres Forschungsprojekts nach lautet die Antwort: nein.
ESG ist ein in der Finanzbranche immer beliebter werdender Investitionsstil. Das Grundprinzip: Fonds berücksichtigen die Auswirkungen von Geschäftspraktiken auf Umwelt und Gesellschaft in ihren Investitionsentscheidungen. Die frühen Vorläufer von ESG lassen sich bis zu religiös inspirierten Investitionspraktiken zurückverfolgen. Diese wurden zum Beispiel von sogenannten »Quaker-Funds« angewendet, die nicht in Glücksspiel oder Alkohol investierten. Doch auch die Anti-Apartheid-Bewegung organisierte Divestment-Kampagnen zur Umsetzung ihrer politischen Forderung. Ziel ist es hierbei, die Finanzierung von unliebsamen Unternehmen zu erschweren.
Dieser Ansatz war und ist in Menschenrechtskampagnen sowie in Antimilitarismus-, LGBTQI+- und Umweltbewegung ebenfalls beliebt. Die Wirksamkeit wurde sowohl in der Wissenschaft als auch in sozialen Bewegungen kontrovers diskutiert. Die meisten empirischen Untersuchungen belegen zwar eine gewisse Wirkung, zeigen aber auch, dass der Ansatz allein nicht in der Lage ist, weitreichende Veränderungen zu bewirken. Viele Linke lehnen Divestment als einen marktbasierten Lösungsansatz für inhärent politische Konflikte ab.
Mit den hier dargestellten, idealistisch motivierten, Ursprüngen von ESG hat die heute milliardenschwere Branche nicht mehr viel zu tun. Die Anfänge waren von kleinen Firmen wie den in London ansässigen Ethical Investment Research and Information Services Ltd. (EIRIS) geprägt. Diese Unternehmen wurden in den 1980er Jahren gegründet. Sie führten Recherchen für institutionelle Anleger durch, die ihre Anlagepraktiken gemäß ihrer moralischen Vorstellungen gestalten wollten. Religiöse sowie wohltätige Institutionen waren besonders interessiert an dem Angebot. Die systematische Forschung zur Förderung »sozial verantwortlicher« Investitionen begann 1988 in den Vereinigten Staaten. KLD-Research & Analytics gehörten zu den sogenannten »First Movern« auf diesem Markt: eine kleine Agentur, die sich der Aufgabe verschrieben hatte, den privaten Sektor in Richtung Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu drängen.
»Viele Linke lehnen Divestment als einen marktbasierten Lösungsansatz für inhärent politische Konflikte ab.«
Im Laufe der Zeit wurden diese idealistischen, nur bedingt profitorientierten, Firmen von größeren Unternehmen aufgekauft. Die Branche entwickelte sich, und Schritt für Schritt verschmolzen die zahlreichen kleinen Agenturen zu marktbestimmenden Konglomeraten. Die früheren, vornehmlich ethisch-wertebasierten Ansätze zur Bestimmung von Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung von Unternehmen wurden nach und nach durch finanzbasierte Bewertungen ersetzt, die für die Finanzbranche weitaus nützlicher sind.
Schätzungen über die Größe der ESG-Branche gehen sehr weit auseinander. Das ist vor allem auf das Fehlen kohärenter Regulierung und Definition zurückzuführen. Besonders treffend wurde der aktuelle Stand der Regulation als »Wilder Westen« bezeichnet. Trotz dieser Unübersichtlichkeit stimmen Analysen und Einschätzungen aus der Wissenschaft sowie der Finanzbranche darin überein, dass der ESG-Sektor seit seinen bescheidenen Anfängen massiv an Größe und Einfluss gewonnen hat. Grund für diese wachsende Bedeutung ist die Lenkfähigkeit von ESG, denn jedes Mal, wenn in der Finanzbranche eine neue Anlagepraxis eingeführt wird, werden Milliarden US-Dollar auf Basis der neu etablierten Kriterien verschoben. Kapital wird also anders zwischen Unternehmen verteilt, wodurch sich das Verhalten dieser verändert und im nächsten Schritt auch die Interaktion von Unternehmen mit Gesellschaft und Umwelt beeinflusst wird.
Die Definitionsmacht über Investitionskriterien ist also deswegen stark umkämpft, da sie einen weitreichenden Einfluss verspricht. Doch wer entscheidet, was die Kriterien für ESG-Fonds sind?
In den letzten zehn Jahren hat sich die Organisation der Investitionskette grundlegend geändert. Seitdem es Finanzmärkte gibt, war es üblich, auf eine begrenzte Anzahl von Unternehmen zu wetten, von denen die Fondsmanager glaubten, dass diese besser als der Marktdurchschnitt perfomen würden.
Seit der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2009 findet jedoch eine massive Verlagerung hin zum sogenannten »passiven Investment« statt. Passive Anlagestile sind dadurch gekennzeichnet, dass nicht etwa bestimmte Unternehmen ausgewählt, sondern lediglich sogenannte Indizes nachgebildet werden. So würde im Beispiel Deutschlands nicht nur in eine Handvoll besonders erfolgversprechender Unternehmen investiert werden, sondern schlicht in alle im DAX gelisteten. Indizes sind mathematische Darstellungen, wie der S&P 500 oder MSCI Emerging Markets, welche zum Ziel haben, bestimmte Märkte – etwa den US-amerikanischen Aktienmarkt – abzubilden. Im Endeffekt sind sie eine auf variierenden Kriterien basierende Liste der in einem bestimmten Markt börsennotierten Unternehmen. Der zentrale Vorteil passiver Investitionsmodelle ist die Minimierung von Risiken und Kosten. Vermögensverwalter wie BlackRock, State Street oder Vanguard setzen indexbasierte Anlagestile in großem Stil um, erzielen dadurch massive Gewinne und erobern machtvolle Marktpositionen samt dem damit einhergehendem politischen Einfluss.
»Unternehmen und ganze Staaten können innerhalb kürzester Zeit vom Zugang zu Kapital ausgeschlossen oder ökonomisch drastisch gefördert werden.«
Die Wende hin zur Dominanz passiver Investitionsmodelle mag oberflächlich betrachtet wie eine eher technische Anpassungen von geringer Bedeutung klingen, doch sie hat weitreichende Verschiebungen der Entscheidungsgewalt innerhalb der Finanzbranche ausgelöst. Die Entscheidungen für oder gegen einen Index als Grundlage eines Fonds von Vermögensverwaltern wie BlackRock und auch die zugrundeliegenden Kriterien für die Konstruktion von Indizes sind zentral geworden. Sie haben einen deutlich weitreichenderen Einfluss als die individuelle Einschätzung der vormals so mächtigen Fondsmanager. Mit dem zunehmenden Trend zu passiven Investitionen nähern sich sogar aktiv verwaltete Fonds den Indizes an. Dieses Phänomen wird als »Benchmark Hugging« bezeichnet. Die Leistung der Fondsmanager wird im Vergleich zu Indizes bewertet, was vielfach dazu führt, dass die aktiven Manager sich stärker an diesen orientieren.
Im Wesentlichen gibt es drei Anbieter von Indizes, deren Urteile einen weitreichenden Einfluss haben: MSCI, S&P Dow Jones Indices und FTSE Russell. Ändern sie ihre Einschätzung darüber, ob ein Unternehmen oder ein Land in einem Index abgebildet werden soll, überträgt sich diese Entscheidung direkt auf die Allokation von Kapital durch Investorinnen und Investoren. Unternehmen und ganze Staaten können innerhalb kürzester Zeit vom Zugang zu Kapital ausgeschlossen oder ökonomisch drastisch gefördert werden.
Die oligopolistische Marktstruktur bei Indexanbietern reproduziert sich auch in der ESG-Branche. Zwar wird noch ein Großteil der Investitionen in der ESG-Branche auf Basis aktiver Investitionsmodelle gesteuert, aber auch hier ist eine drastische Umkehrung im Gange. Inzwischen nutzen 88,1 Prozent aller Fonds in der Branche Indizes entweder als den zentralen Anker oder als ein Tool zum Vergleich oder der Messung ihrer Investitionsstrategie. Von den fünfhundert größten ESG-Fonds der Welt folgen 28,2 Prozent einem Index und damit einem passiven Investitionsstil. Und in eben diesem Segment ließ sich in den letzten Jahren der größte Zuwachs verzeichnen. BlackRock allein verwaltet 45,5 Prozent dieser Fonds. Nur eine Handvoll anderer Vermögensverwalter besitzt hier überhaupt relevante Marktanteile.
Diese Marktkonzentration ist zwar eindrücklich, verblasst aber im Vergleich zum Markt für Indizes. Hier konkurrieren Indexanbieter wie MSCI um die Nutzung der von ihnen angebotenen Indizes durch die Vermögensverwalter. 93,6 Prozent der passiv verwalteten Vermögenswerte folgen ESG-Indizes von nur fünf Indexanbietern. Hiervon macht MSCI allein einen Marktanteil von 67,9 Prozent aus. Wenn wir verstehen wollen, wie ESG funktioniert, müssen wir also die von den Indexanbietern, und vor allem von MSCI, konstruierten Kriterien für »nachhaltige und sozial verantwortungsbewusste« Investitionen unter die Lupe nehmen.
MSCI und andere Indexanbieter definieren, was als ESG-Index und damit als ESG-Fonds gilt. Die angebotenen ESG-Indizes unterscheiden sich allerdings erheblich. Deswegen schlagen wir ausgehend von unserer Untersuchung eine Unterteilung in drei Kategorien auf Basis der möglichen positiven Auswirkungen vor. Wir unterscheiden zwischen »Broad ESG«, »Light Green« und »Dark Green« ESG-Indizes.
Entscheidend ist hierbei: keine der drei Kategorien sieht Mechanismen zur direkten Einflussnahme auf die Geschäftspraktiken von Unternehmen vor. Interventionen wären unter anderem durch Abstimmungsverhalten bei Jahreshauptversammlungen oder direkte Gespräche mit der Geschäftsführung möglich. ESG-Fonds setzen zur Beeinflussung von Geschäftspraktiken allerdings ausschließlich auf ihre Entscheidungsgewalt über die Verteilung von Kapital. »Broad ESG-Fonds« ahmen reguläre Indizes nach. Sie schließen weder besonders unnachhaltige Rohstoffindustrien, fossile Branchen oder Waffenproduzenten systematisch aus. Häufig sind Konzerne wie Total oder Lockheed Martin in diesen Fonds zu finden, denn im Vergleich zu anderen Herstellern von fossilen Brennstoffen oder Waffen erzielen sie ein etwas besseres ESG-Rating.
»Light Green«-Indizes basieren auf etwas strengeren Ausschlusskriterien. Konzerne, deren ökologische und soziale Bilanz als inakzeptabel gelten, sind weitestgehend konsequent aus den Indizes entfernt. »Dark Green«-Indizes hingegen kanalisieren tatsächlich aktiv Kapital in die Transformation der Wirtschaft. Auf Basis strenger Ausschluss- und Dekarbonisierungskriterien lenken sie Investitionen in Sektoren, die notwendigen Mittel für eine Energiewende, wie zum Beispiel Solarpanels produzieren.
»ESG-Fonds sind weder besonders ›woke‹ noch eine Bedrohung für den Kapitalismus. Im Kampf gegen den Klimawandel müssen wir also über den privaten Finanzsektor hinausdenken.«
Von den 189,9 Milliarden Dollar, die in unserem Datensatz auf Basis passiver Anlagestrukturen gelenkt werden, folgen jedoch lediglich 9,3 Milliarden US-Dollar »Dark Green« Indizes. Dies entspricht nur etwa 4,9 Prozent des verwalteten Vermögens. Ein Großteil des Kapitals, 167,2 Milliarden US-Dollar (88 Prozent), folgt Indizes, die wir als »Broad ESG«-Indizes einstufen. Die Kriterien auf denen der Großteil der globalen ESG-Investitionen gelenkt wird, weichen also nur geringfügig von gängigen Geschäftspraktiken ab.
Diese Ergebnisse haben weitreichende politische Implikationen: Erstens ist die von rechts geführte Verleumdungskampagne gegen ESG-Fonds nichts weiter als das Produkt eines ideologisch motivierten politischen Projekts. Im krassen Gegensatz zu den starken Auswirkungen, die sowohl Rechte als auch Befürwortende des Ansatzes behaupten, beobachten wir keine bedeutenden materiellen Auswirkungen. Nur sehr geringe Anteile und kleine Segmente des Sektors weichen nennenswert von gängigen Investitionspraktiken ab.
Diese sehr geringe Abweichung zeigt, zweitens, dass wir nicht erwarten können, dass der freie Markt die Wirtschaft in der notwendigen Geschwindigkeit dekarbonisiert oder gar Kapital in die so dringend notwendige grüne Transformation lenkt. Während das in weiten Teilen der Linken wohl als gesunder Menschenverstand gelten mag, äußern hochrangige Politikerinnen und Politiker wie auch renommierte Teile der ökonomischen Wissenschaften immer wieder weitreichende Erwartungen an die Steuerungskapazität privater Finanzmärkte. Eine verstärkte öffentliche Regulierung, wie etwa die Regeln der Securities and Exchanges Commission zur Offenlegung von Klimadaten, könnte durchaus einen gewissen Wandel erwirken. Ihre endgültige Veröffentlichung wurde allerdings immer wieder verschoben – was exemplarisch für die Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Regulatorik gegen die Interessen der Privatwirtschaft steht. Wenn die Regulierungsbehörden ihren erklärten Ambitionen gerecht würden, könnten sie durchaus strenge Ausschlusskriterien durchsetzen und aktiv Kapital in Unternehmen leiten, die saubere Energie produzieren. Unsere Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass die aktuell entstehenden Regulierungen höchstwahrscheinlich dem von der Finanzindustrie vorgegebenen Drehbuch folgen und die Marktmacht der Indexanbieter weiter stärken werden.
ESG-Fonds sind weder besonders »woke« noch eine Bedrohung für den Kapitalismus. Im Kampf gegen den Klimawandel müssen wir also, drittens, über den privaten Finanzsektor hinausdenken. Wenn der private Sektor nicht in der Lage oder nicht willens ist, den notwendigen Umbau der Produktion voranzutreiben, die in Reaktion auf die Ausbreitung der Klimakrise notwendig ist, muss der Aufbau einer dezentralen, nachhaltigen Energieversorgung öffentlich finanziert werden. In den Worten der Wirtschaftswissenschaftlerin Daniela Gabor: »Die Privatwirtschaft kann unsere Volkswirtschaften nicht dekarbonisieren – doch der ›große grüne Staat‹ ist dazu in der Lage.«
Robin Jaspert ist Politökonom und promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er forscht zu Staatsfinanzen, Süd-Nord-Beziehungen, Fiskal- und Geldpolitik.
Johannes Petry leitet das StateCapFinance Forschungsprojekt an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er ist Politökonom und erforscht Transformationen des globalen Finanzsystems, wie die Internationalisierung des chinesischen Finanzsystems, die Politik von Marktinfrastrukturen, die wachsende Rolle nicht-westlicher Finanzakteure und -praktiken sowie den Wandel hin zu ›grünem‹ Asset-Manager-Kapitalismus.